
In den vergangenen Jahren wurden hunderte neue Kohlekraftwerke gebaut, viele weitere befinden sich in der Pipeline. Ist das 1,5 Grad-Ziel aus Paris damit bereits passé?
Steckel: Die Laufzeiten sind der Schlüssel. Wenn die vielen neuen Kohlekraftwerke 40 Jahre laufen, dann werden wir die Klimaziele nicht erreichen. Doch in Asien plant niemand damit, ein Kraftwerk 40 Jahre zu betreiben. Wenn wir auf die Größenordnung von 15 Jahren Laufzeit kommen und sich der Bau neuer Kohlekraftwerke weiter verlangsamt, dann ist noch nicht alle Hoffnung verloren.
Die Hauptkohleverbraucher sind China, Indien und Indonesien: Entwickelt sich Kohle zu einem asiatischen Thema?
Steckel: Ja, das kann man so sagen. Es liegt aber auch einfach daran, dass Asien der Kontinent ist, der am schnellsten wächst. Zudem hat Lateinamerika starke Wasserkraftvorkommen. Und in Afrika bekommt man solche großen Projekte häufig nicht finanziert.
Erschwert diese zunehmende Kluft in der Kohleabhängigkeit den internationalen Dialog über einen Kohleausstieg?
Steckel: Durchaus, Indien spielt diese Karte stark. Premierminister Modi lässt immer wieder anklingen, dass Indien sich die Kohle nicht verbieten lasse. Klar ist: Für die Schwellenländer steht nicht der Klimaschutz im Vordergrund. Umweltschutz, vor allem die omnipräsente Luftverschmutzung, ist da schon eher ein Thema. Aber letztlich ist es vorrangig eine ökonomische Frage.
Ist der kapitalintensive Aufbau der neuen grünen Infrastruktur also die größte Hürde für den Kohleausstieg?
Steckel: Wir machen jedenfalls einen großen Fehler, wenn wir gegenüber Schwellenländern behaupten, dass die Erneuerbaren für sie allein dank der guten Wind- und Solarbedingungen günstig seien. Das stimmt angesichts der hohen Kapital- und Finanzierungskosten nicht. Wind und Sonne sind zwar gratis, das bedeutet aber auch, dass die gesamten Lebenszeitkosten vorfinanziert werden müssen. Versorgungsunternehmen, die in Schwellenländern häufig staatlich und hoch verschuldet sind, müssen sich dafür mehr Kapital besorgen, als sie für fossile Investitionen aufnehmen müssten. Ganz zu schweigen von zusätzlichen Investitionen, die sie im Falle der Erneuerbaren noch in Netzinfrastruktur tätigen müssen. Gleichzeitig müssen sie politische Vorgaben erfüllen, den Strom billig zu verkaufen. In der Konsequenz fällt die Entscheidung häufig pro Kohle aus. In Ländern wie Vietnam kommt dazu, dass die politische Sorge besteht, dass sie eine rasche Energiewende institutionell überfordert. Ein Energiesystem, das auf Kohle und Gas basiert, ist relativ einfach zu planen. Ich weiß, wie viel Tonnen Kohle ich in mein Kraftwerk schaufle und wie viel Megawatt es zur Stunde X bereitstellt. Das ist bei Wind komplizierter. Viele Schwellen- und Entwicklungsländer sorgen sich, dass das zu neuen technologischen Abhängigkeiten führt oder sie Engpässe an Humankapital bekommen, weil es so komplex ist.
Wie wird sich die Bedeutung der Kohle in den kommenden Jahren und Jahrzehnten entwickeln – gradueller Niedergang oder läuft es disruptiv?
Steckel: Es läuft disruptiv. Wir werden den Punkt erreichen, dass diese großen stationären, unflexiblen Kraftwerke stören und das Gesamtsystem teurer machen. Und dann müssen wir uns über Energy Transition keine großen Gedanken mehr machen, sondern das ist dann einfach passiert. Wie hässlich die politischen Begleiterscheinungen werden, ist jedoch eine andere Frage. Grundsätzlich lässt sich aber sagen, dass in den vergangenen Jahren enorm viel weiter gegangen ist: Im Jahr 2017 habe ich auf der Weltklimakonferenz einen Report über den Kohleausstieg vorgestellt, das hat niemanden interessiert. Jetzt ist klar: Kohle muss raus, auch wenn sich einige Länder damit mehr Zeit lassen werden als andere.