Andrew Bastawrous war zwölf Jahre alt, als er das erste Mal einzelne Blätter auf Bäumen wahrnahm und Sterne am Himmel entdeckte. Möglich machte dies eine Brille. Bis dahin hatte der Bub nichts von seiner Fehlsichtigkeit gewusst. „Wer mit schlechten Augen aufwächst, hat keine Ahnung von dem, was er verpasst“, erinnert er sich. Für den Briten mit ägyptischen Wurzeln sei es jedenfalls ein einschneidender Moment gewesen: „Plötzlich konnte ich die Zeichen auf der Schultafel sehen, dem Unterricht besser folgen und zu einem guten Schüler werden. Und durch das Erkennen von Gesichtsausdrücken wurde auch erst die nonverbale Kommunikation mit anderen Menschen möglich.“

Das war so prägend für Bastawrous, dass er beschloss, Augenheilkunde zu studieren. Der heute 39-Jährige ist mittlerweile Augenchirurg und forscht und lehrt an der London School of Hygiene & Tropical Medicine. Und: Er ist Mitgründer und CEO von Peek Vision, einem Sozialunternehmen, das sich der Augengesundheit in Entwicklungsregionen verschrieben hat.

Heilbare Blindheit

A. Bastawrous, CEO Peek Vision
Andrew Bastawrous, CEO Peek Vision

Weltweit leben laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO rund 1,3 Milliarden Menschen mit Sehbeeinträchtigungen, rund 36 Millionen von ihnen sind blind. „In vier von fünf Fällen wäre die Blindheit vermeid- oder heilbar“, erklärt Bastawrous. Beispielsweise würden viele Menschen gerade in Subsahara- Afrika oder Asien an Katarakt, einer Trübung der Augenlinse leiden, die ohne entsprechende Behandlung zur Erblindung führt. Diese Krankheit lässt sich durch eine „zehnminütige Operation um weniger als hundert Dollar“ beheben, so der Augenspezialist. Insbesondere in ländlichen Regionen scheitert die Hilfe jedoch im Ansatz: Viele Patienten wissen nichts von der Heilbarkeit ihrer Erkrankung, weil sie nie untersucht wurden. Und das liegt vor allem an einem eklatanten Mangel an Fachärzten. In Kenia etwa, sagt Bastawrous, kommen auf 52 Millionen Einwohner gerade einmal 90 Augenärzte, von denen wiederum die Hälfte in der Hauptstadt Nairobi arbeitet. „In manchen Regionen ist ein Augenarzt für fünf Millionen Menschen zuständig.“

Für ein universitäres Gesundheitsprojekt zog Bastawrous 2007 nach Kenia. Er hatte den Auftrag, im ländlichen Rift Valley viele kleinere Augenkliniken einzurichten. „Wir haben teure und fragile medizinische Ausstattung in abgelegene Gegenden transportiert, doch durch die meist unzuverlässige Stromversorgung konnten wir die Geräte häufig gar nicht nutzen“, erzählt er. Er tüftelte daher an einer Lösung, die ohne lokale Fachkräfte und teure Geräte auskommt – und entdeckte das Smartphone als ideales Diagnosegerät. Mit britischen Ärzten, Desi- gnern und Software-Spezialisten entwickelte er die App Peek Acuity, mit der auch Laien Sehtests durchführen können, sowie den Kamera-Adapter Peek Retina, mit dem sich die Netzhaut fotografieren lässt. Die Digitalbilder können dann per Internet von Augenärzten oder durch Künstliche Intelligenz auf Auffälligkeiten hin untersucht werden.

Aus einem mehrjährigen Forschungsprojekt der London School of Hygiene & Tropical Medicine entstand schließlich 2015 das Spin-off Peek Vision, ein Sozialunternehmen mit anfangs sieben, heute 35 Mitarbeitern – das Kürzel Peek steht dabei für Portable Eye Examination Kit. Noch im selben Jahr setzte Peek Vision ein großes Pilotprogramm auf: 25 Lehrer führten Smartphone-Sehtests an 21.000 Schülern in Kenia durch und stellten dabei Seheinschränkungen bei 900 Kindern fest. Solche Tests fanden inzwischen auch an Schulen und in Gemeinden in Indien, Tansania, Äthiopien und Botswana statt, wobei die Kosten von Partnerorganisationen und Regierungen übernommen werden. Mehr als 300.000 Menschen wurden bereits gescreent.

Das System im Blick

Von solchen Massenuntersuchungen zeigt Bastawrous gern Bilder her. Doch, so betont er, entstünden die „schönen Fotos am Ende eines sehr aufwändigen Prozesses“. Die Sehtests seien nämlich lediglich ein kleiner Teil der Arbeit: „Der Wert einer Diagnose ist gering, wenn keine Behandlung folgt – und wir wollen keine Nachfrage schaffen, die niemand bedienen kann.“ Viel mehr gehe es ihm darum, den Zugang zu Augenheilkunde auch in unterfinanzierten Gesundheitssystemen zu verbessern. Und dazu braucht es zunächst einmal Informationen über den Ist-Zustand. So schätzen Peek Vision-Mitarbeiter vorab, mit welchen Krankheiten und Patientenzahlen in einer Region zu rechnen ist. Dann werden existierende Strukturen unter die Lupe genommen: Gibt es Spitäler, Augenärzte, Gesundheitszentren? Welche Stakeholder entscheiden mit, ob Augenerkrankte und Fehlsichtige behandelt werden? Mit wem sind Kooperationen möglich, wer finanziert diese? Alle Komponenten müssen im Rahmen des Prozessdesigns konsultiert und berücksichtigt werden. „Es ist nie einfach und auch nie langweilig“, lacht Bastawrous. Erst wenn die Vorarbeit geleistet ist, kommt das Smartphone zum Zug. Dann schulen Peek Vision-Mitarbeiter Laien im Umgang mit Apps und Adapter – und im Prozedere nach der Erstdiagnose. Denn bei Auffälligkeiten erhalten die Untersuchten gleich Informationen zu den nächsten Schritten per SMS. Parallel dazu wird der lokale Gesundheitsanbieter über die potenziellen Patienten informiert.

Eine 2018 im Fachmagazin Lancet Global Health veröffentlichte Studie belegt den Erfolg dieser Vorgehensweise: Demnach habe sich in Kenia im Vergleich zu herkömmlichen Augenuntersuchungen die Zahl der Kinder, die nach der Erstdiagnose auch zu Nachuntersuchungen gehen, verdreifacht.

Mehr Vertrauen

Durch Analyse der Patientengeschichten will Peek Vision weitere Hürden identifizieren. Und derer gibt es viele – von mangelndem Bewusstsein bei Patienten, hohen Behandlungskosten, zu große Entfernungen zwischen Patient und Arzt oder schlichtweg Angst. „Es gibt in Afrika etwa den weitverbreiteten Glauben, dass bei Katarakt-OPs Katzenaugen eingesetzt werden. Oder Menschen verweigern eine Behandlung, weil in ihrer Sprache das Wort für Operation gleichbedeutend ist mit Schlachtung“, so Bastawrous. Oft reiche bereits etwas Aufklärung oder ein Alternativbegriff, um die Akzeptanz eines Eingriffs zu erhöhen. 

Mit dem Peek Retina-Aufsatz kann ein Smartphone Bilder der Netzhaut erstellen (Nettopreis ca. 210 Euro).
Mit dem Peek Retina-Aufsatz kann ein Smartphone Bilder der Netzhaut erstellen (Nettopreis ca. 210 Euro).

Um wirklich viele Menschen erreichen zu können, wünscht sich Bastawrous mehr Mittel zur Finanzierung einer „Gesamtmission“, nämlich „des Zugangs zu qualitativ hochwertiger Augenheilkunde für alle“. In einen 2018 lancierten „Vision Catalyst Fund“ setzt er hohe Erwartungen: Dieser von Banken, NGO und Medizinunternehmen gegründete Fonds will künftig eine Milliarde Dollar bereitstellen, um Regierungen in Entwicklungsregionen die Finanzierung universeller Augengesundheitsprogramme zu erleichtern. Initiiert wurde der Fonds vom Queen Elizabeth Diamond Jubilee Trust, einem wichtigen Unterstützer von Peek Vision. Der Trust stellte der Organisation bereits eine Million Pfund zur freien Mittelverwendung zur Verfügung. Peek Vision startete damit ein Pilotprojekt zur Früherkennung von Augenerkrankungen in Botswana. Und dieser Testlauf habe, freut sich Bastawrous, die botswanische Regierung schließlich zum Launch eines landesweiten Programms motiviert: Bis 2021 soll jedes Schulkind untersucht und bei Bedarf behandelt oder mit einer Gratisbrille ausgestattet werden. Die Regierung habe den Nutzen erkannt, so Bastawrous, denn wer gut sieht, der lernt und arbeitet besser: „Jeder Dollar, der in die Sehkraft eines Kindes investiert wird, bringt einen 150-fachen Return über dessen Lebenszeit.“

Weltweit Aktiv

Massenuntersuchung: Eine Smartphone-App macht Sehtests in Schulen möglich.
Massenuntersuchung: Eine Smartphone-App macht Sehtests in Schulen möglich.

Auch für Peek Vision strebt Bastawrous eine Neuerung an: Wurde die Organisation anfangs vor allem durch Spenden finanziert, soll sie sich in den nächsten zwei bis drei Jahren selbst tragen. Künftige Gewinne möchte er über eine Stiftung in augenmedizinische Services in ärmere Länder investieren. Peek verkauft bereits Beratungsleistungen, Software und Produkte an Regierungen und NGO. Vor kurzem startete eine Kooperation mit der NGO CBM, gemeinsam will man Augengesundheitsprogramme in Ruanda, Simbabwe, Pakistan und Indonesien durchführen. Bastawrous: „Das ist unser erstes länderübergreifendes Abkommen mit einem internationalen Partner. Wir werden vielen Menschen helfen, für die Augengesundheitsservices sonst unerreichbar wären.“

Fotos: Peek Vision, Rolex Joan Bardeletti (3)