Die Windeln waren besorgt, die Strampler gewaschen, vielleicht stand im Vorzimmer schon ein Kinderwagen bereit. Mit einer solchen Grundausstattung durften wohl alle 85.535 Babys, die laut Statistik Austria 2018 in Österreich geboren wurden, fix rechnen, so sie nicht überraschend früh das Licht der Welt erblickten. Und auch mit einem Blatt Papier wurden die Neugeborenen schon in den ersten Tagen ausgestattet: mit ihren Geburtsurkunden.

Damit sind die vielen Babys auch vor den Augen des Gesetzes in Erscheinung getreten. Ihre Namen und Geburtsdaten tauchen dann in einem größer werdenden Portfolio offizieller Nachweise auf: auf Meldezetteln, Staatsbürgerschaftsnachweisen und in Versicherungsdatenauszügen, auf E-Cards, Schulzeugnissen und Ausbildungsbestätigungen, in Heirats- oder Partnerschaftsurkunden, in Schüler- und Personalausweisen, in Führerscheinen und in Reisepässen.

Identitätskrise

Der Besitz einer gut gefüllten Dokumentenmappe ist keine Selbstverständlichkeit. Laut Weltbank-Initiative Identification for Development ID4D konnten 2018 rund eine Milliarde Menschen ihre Identität nicht nachweisen. Jeder achte Erdenbürger verfügt somit über keine Form eines offiziell anerkannten Ausweises. Die meisten der „unidentifizierten Milliarde“, wie sie auch genannt wird, leben in Subsahara-Afrika und in Asien, in Gebieten, in denen Armut und Konflikte herrschen. In diesen Regionen mangelt es oft an leistungsfähigen Personenstandsregistern, die Ereignisse wie Geburt, Heirat und Tod aller Einwohner zuverlässig registrieren können. Auch mangelnde Nachfrage, für die es unterschiedliche Gründe gibt, spielt eine Rolle: In ärmeren Ländern bringen beispielsweise viele Frauen ihre Kinder zuhause auf die Welt und der Gang zur nächsten Behörde steht nicht unbedingt auf ihrer Prioritätenliste, wenn er mit Kosten und mehrtägigen Reisen verbunden ist. Manche Eltern finden es auch ausreichend, nur ihre Söhne registrieren zu lassen, fühlen sich von Behördenwegen überfordert oder haben Angst vor Diskriminierung, weil ihr Kind unehelich ist oder sie einer unterdrückten Minderheit angehören.

So kommt es, dass laut ID4D schätzungsweise 450 Millionen Mädchen und Buben heute nur als „Ghost Children“ existieren. Und das Dasein als Geisterkind bringt Einschränkungen mit sich: „Ohne staatliche Anerkennung können Kinder keine Rechte geltend machen: auf angemessene gesundheitliche Versorgung, auf Zugang zu Bildung, Ausbildung oder soziale Absicherung. Das Risiko, bereits im Kindesalter verheiratet zu werden oder in die Armee zu müssen, steigt. Und als Erwachsene können sie sich nicht in die formale Wirtschaft integrieren und auch nicht an Wahlen teilnehmen“, zählt Adama Sawadogo gravierende Nachteile auf. Sawadogo hat das Start-up ICivil Africa mit Sitz in Burkina Faso gegründet, um die Registrierungsrate von Babys mittels Smartphone-App und Spezialarmband zu erhöhen.

Basis für Entwicklung

Mit seinem Start-up unterstützt Sawadogo die Erreichung der globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung SDG: Bis 2030 soll nämlich „die rechtliche Identität aller Menschen einschließlich der Geburtsregistrierung gewährleistet sein“, so die Vorgabe der Vereinten Nationen. In Ländern wie Somalia gibt es allerdings bis heute kein landesweites System zur Feststellung der Identität der Bürger, viele Geburten werden nicht erfasst. Um das notorische Krisenland auf den richtigen Kurs bringen und staatliche Strukturen aufbauen zu können, will Premierminister Hassan Ali Khaire nun einen Personalausweis einführen. „Ausweise sind die Basis aller großen Reformen“, erklärte er bei einer Veranstaltung der ID4D-Initiative, „wir müssen unsere Bürger kennen, um allgemein freie Wahlen durchführen zu können, um Reformen im Sicherheitssektor und in der Korruptionsbekämpfung durchzusetzen und um ein funktionierendes Bankensystem aufzubauen.“

Interview mit Anit Mukherjee, Center for Global Development

Anit Mukherjee, Center for Global Development

Ende der Beweisbürde

Anit Mukherjee vom US-Think Tank Center for Global Development baute Aadhaar, die biometrische Datenbank Indiens, mit auf. Im Interview erzählt der Politexperte über Meilensteine, Herausforderungen – und Überraschungen.

Das Meistern der Identifizierungshürde gilt tatsächlich als wichtiger Baustein für Entwicklung: Staatliche Behörden und Entwicklungsorganisationen können mit zuverlässigen Daten Lehrerausbildungen, Impfkampagnen oder Katastrophenschutz besser planen. Gute Identifikationssysteme können auch Betrug aufdecken: In Ruanda etwa, wo laut Regierungsangaben 99 Prozent der zwölf Millionen Einwohner biometrisch erfasst sind, „können wir verhindern, dass Menschen Identitäten klonen und so unberechtigt soziale Leistungen beziehen“, erklärt die ruandische IKT-Ministerin Paula Ingabire. Auch der Zugang zu Finanzdienstleistungen hängt von der Möglichkeit der Identitätsprüfung von Kunden ab, zu der die Banken nach dem Know-your-Customer-Prinzip (KYC) verpflichtet sind.

Nur mit Karte

Massenregistrierung: Aadhaar in Indien
Massenregistrierung: Aadhaar in Indien

Das Somalische Nationale Identitätsprogramm soll auf der digitalen Erfassung biometrischer Daten basieren. Etliche Entwicklungsländer haben es schon vorgemacht. In Indien wurde in den vergangenen zehn Jahren mit „Aadhaar“ das weltweit umfangreichste biometrische Registrierungsprogramm durchgeführt: Bei 1,2 Milliarden Menschen wurden jeweils alle zehn Fingerabdrücke erfasst, zwei Irisbilder und ein Porträt erstellt sowie persönliche Daten aufgenommen. Jeder Inder kann sich nun bei Banken, Behörden und in Geschäften authentifizieren, indem er seine persönliche zwölfstellige Aadhaar-Nummer und einen Fingerabdruck oder Iris-Scan abgibt. Damit lassen sich Bankkonten rasch eröffnen oder subventionierte Lebensmittel wie Reis und Öl kaufen. „Die Regierung überweist außerdem heute viele ihrer Sozialleistungen direkt auf die Bankkonten der Menschen. Indiens Direct Benefit Transfer ist damit die weltgrößte Plattform für staatliche Leistungen“, erzählt Politexperte Anit Mukherjee, der Aadhaar mit aufgebaut hat (siehe Interview).

Eine aktuelle Massenregistrierungskampagne findet in Kenia statt. Alle Kenianer ab einem Alter von sechs Jahren (sowie im Land lebende Ausländer) sind aufgefordert, sich biometrisch erfassen zu lassen. Dafür erhalten sie eine Huduma Namba Karte mit persönlicher Identifikationsnummer. Wer sich der Registrierung entziehen möchte, dürfte es künftig schwer haben. Die Karte wird für praktisch alle administrativen Vorgänge benötigt: für die Registrierung eines Unternehmens oder einer Handynummer, für die Stromversorgung, für Wahlen, für den Besuch öffentlicher Schulen, für Gesundheitsservices, für die Steuerzahlung und mehr.

Sichere Daten

Im Zuge der Errichtung zentral verwalteter Identifikationssysteme sind heftige Debatten rund um Privatsphäre und Datenschutz meist nicht weit. Das Aadhaar-Programm ist schon länger mit der Kritik konfrontiert, zu viele persönliche Daten über die Aktivitäten der Bevölkerung zusammenzutragen und damit gläserne Bürger zu schaffen. Auch werden immer wieder Datenlecks bei den Behörden aufgedeckt. Die Bedenken führten bis zu einem Verfahren beim obersten Gericht, das 2018 schließlich entschied, Aadhaar prinzipiell zu erlauben, weil die Vorteile für die schwächsten Teile der Gesellschaft die Einschränkungen der Privatsphäre überwiegen würden.

Es sei stets eine Gratwanderung, sagt Mukherjee: „Länder müssen ihren Bedarf an digitalen ID-Systemen und die damit verbundenen Effizienzgewinne in Einklang bringen mit den notwendigen Einschränkungen und Schutzmaßnahmen, so dass sichergestellt ist, dass diese Systeme dem öffentlichen Wohl dienen.“

Wie nun eine „Good ID“ aussieht? Dazu schlägt die Weltbank-Initiative ID4D die Einhaltung von zehn Richtlinien vor, um Nutzen und Risiken von ID-Systemen auszubalancieren. Als wichtiges Prinzip gilt beispielsweise „Privacy by Design“: Es bedeutet, Datenschutz und Privatsphäre bereits in der Entwicklung eines neuen ID-Systems mitzudenken und technisch und organisatorisch zu integrieren.

Lukas Praml, Youniqx Identity
Lukas Praml, Youniqx Identity

Als Anbieter sicherer digitaler Lösungen will sich übrigens nun die österreichische Staatsdruckerei OeSD, die bereits Reisepässe für Malawi und Visa für Äthiopien produziert hat, international in Position bringen. Die OeSD verfügt mit Youniqx Identity über eine Digitaltochter, die unter anderem ein Video-Identifikationssystem und einen digitalen Identitätsnachweis fürs Handy entwickelt hat. Im Juni 2019 hat das Unternehmen die African Innovation Challenge, einen neuen Wettbewerb der Außenwirtschaft Austria gewonnen, und zwar für ihr Konzept zur erstmaligen Erfassung von Menschen in Afrika. „Ausweislose Personen können über einen Video-Call mit einer Behörde in Kontakt treten und den Beamten ihre Daten bekannt geben. Neben dem Antragsteller sitzt eine behördlich registrierte, glaubwürdige Person, beispielsweise der Dorfälteste, der persönlich für den Antragsteller bürgt“, umreißt Geschäftsführer Lukas Praml die Idee. Damit entstehe dann eine erste Basis für eine rechtliche Identität. In der Folge können die Daten auf eine Handy-App geladen und so papierlos präsentiert werden. Der Nutzer kann die für einen administrativen Vorgang jeweils relevanten Infos freigeben.

Im September wird Youniqx das Konzept beim „South Africa Innovation Summit“ in Kapstadt vor afrikanischen Interessenten präsentieren. Angesichts einer halben Milliarde unregistrierter Afrikaner könnte es sich tatsächlich auszahlen, nach Südafrika zu fliegen – natürlich mit Reisepass im Gepäck.


Best-Practice

Jedes Kind zählen
Mobile Geburtsregistrierung in Pakistan und Myanmar
Mobile Geburtsregistrierung in Pakistan und Myanmar

In Pakistan leben rund 15 Millionen unregistrierte Kinder unter fünf Jahren. Seit 2014 arbeiten Unicef, der norwegische Mobilfunker Telenor und lokale Behörden zusammen, um Eltern bei der Geburtsregistrierung zu unterstützen. Dazu suchen Mitarbeiter Familien in ländlichen Gemeinden auf und nehmen die Daten der Kinder via Smartphone auf. Die erhobenen Daten werden dann an die Behörden für die Ausstellung offizieller Geburtsurkunden übermittelt. Bislang wurden 780.000 pakistanische Kinder registriert, bis 2020 sollen es zwei Millionen sein. Unicef und Telenor kooperieren inzwischen in ähnlicher Form auch in Myanmar.

Persönliches Armband
Spezialarmband für Babys in Burkina Faso.
Spezialarmband für Babys in Burkina Faso.

In Burkina Faso – einem Land mit mehr als zwei Millionen unregistrierten Kindern – hat das lokale Tech-Start-up ICivil eine innovative Lösung erfolgreich getestet: Babys erhalten nach der Geburt im Spital ein Armband, auf dem sich ein fälschungssicheres Bubble-Siegel sowie ein QR-Code befinden. Scannt ein Spitalsmitarbeiter das Band mithilfe einer Smartphone-App ein, öffnet sich ein digitaler Fragebogen für die Geburtsregistrierung. Die Daten werden dann an das Geburtenregister weitergeleitet. Gegen Vorlage des Armbands erhalten Eltern das Geburtsdokument, das ebenfalls das Siegel enthält. Kinder, die zuhause geboren werden, bekommen das Armband entweder von Hebammen oder im Zuge ihrer ersten Impfung. Eine landesweite Implementierung steht laut ICivil bevor.

Geld nur mit Fingerabdruck 
Zur Betrugsbekämpfung setzen Nigerias Banken auf biometrische Daten.
Zur Betrugsbekämpfung setzen Nigerias Banken auf biometrische Daten.

Dass Menschen unter verschiedenen Namen mehrere Konten führen, kommt in Nigeria durchaus vor. Die Zentralbank, 24 Geschäftsbanken sowie mehrere kleinere Finanzinstitute haben zur Betrugsbekämpfung mithilfe des deutschen Unternehmens Dermalog ein biometrisches System mit Fingerabdruck und Gesichtserkennung implementiert. Durch Abgleich mit einer zentralen Datenbank kann nun jede Bank prüfen, ob ein Kunde bereits registriert ist und etwa Bankschulden unter anderem Namen hat. Mehr als 38 Millionen Kunden sind derzeit erfasst. Das System identifizierte dabei zehntausende nicht existierende oder doppelt kassierende Beamte, die von Gehaltslisten gestrichen werden konnten.

Alters-Check vor Heirat
Kampf gegen Kinderehen durch Alters-Check.
Kampf gegen Kinderehen durch Alters-Check.

In Bangladesch wird mehr als die Hälfte aller Mädchen vor dem 18. Geburtstag verheiratet. Gefälschte Geburtsurkunden und andere Dokumente machen die Eheschließung von Minderjährigen möglich. Eine mobile App, die von der Regierung und der NGO Plan International lanciert wurde, soll nun helfen, Kinderehen zu verhindern: Im Rahmen der offiziellen Eheregistrierung kann das Alter von Braut und Bräutigam über eine Datenbank sicher überprüft werden. Mehrere tausend Kinderehen sollen durch die App, die für ländliche Gebiete auch als Offline-Variante zur Verfügung steht, bereits verhindert worden sein. Die NGO schult zudem 100.000 Beamte, Imame und andere Eheschließer zu den negativen Auswirkungen von Kinderehen.


 
Fotos: Telenor Gruppe, Dermalog, Youniqx Identitiy, Icivil, Plan International