Wann immer Cedric Habiyaremye ein Grummeln in der Magengegend verspürt, öffnet er den Kühlschrank und nimmt sich, was er braucht. Für den Ruander ist dies ein „Luxus“, wie er unlängst in einem TED-Talk erklärte. Denn in seiner Kindheit, die er teils in der Heimat, teils in einem tansanischen Flüchtlingslager verbrachte, gab es Tage, an denen er lediglich Blätter und Gräser zu essen bekam, und andere, an denen es nicht einmal das gab. Heute ist Habiyaremye ein in den USA ausgebildeter Agrarwissenschafter und Unternehmer, doch der Hunger hat ihn nicht losgelassen. Im Gegenteil: Er sucht Lösungen für eine bessere Ernährung von Menschen in ärmeren Ländern.

Das lateinamerikanische Pseudogetreide Quinoa hat es Habiyaremye besonders angetan: „Es steckt voller Nährstoffe und enthält alle neun essenziellen Aminosäuren.“ Und er ist überzeugt: Würden Menschen mehr Quinoa essen, wäre ein wichtiger Beitrag im Kampf gegen Hidden Hunger erzielt. Beim verborgenen Hunger geht es nicht um Kalorien, sondern um Mineralstoffe und Vitamine – ein Mangel, der zwei Milliarden Menschen weltweit betrifft.

Massenphänomen verborgener Hunger

Verborgener Hunger kann auch bei gut gefüllten Tellern auftreten. Er kommt vor allem bei Menschen vor, die sich keine abwechslungsreichen Mahlzeiten leisten können und mit Reis, Mais, Weizen oder Maniok ihr Auslangen finden müssen. In Subsahara-Afrika und in Asien ist die unzureichende Versorgung mit Mikronährstoffen besonders verbreitet. Laut Weltgesundheitsorganisation haben vor allem ein Mangel an Vitamin A, Eisen und Zink große nachteilige Auswirkungen. Experten warnen insbesondere vor der Mangelernährung von Müttern und Kindern während des Tausend-Tage-Fensters, jenes kritischen Zeitraums zwischen dem Beginn einer Schwangerschaft und dem zweiten Geburtstag des Kindes, in dem die Weichen für Wachstum und die Entwicklung von Gehirn und Immunsystem gestellt werden. 

Die weltweit häufigste Mangelernährung betrifft Eisen, die daraus resultierende Anämie trägt jedes Jahr zum Tod von rund 50.000 Frauen im Kindbett bei und hemmt die körperliche und geistige Entwicklung von Babys. Ein dauerhaft niedriger Vitamin-A-Spiegel kann bei Kindern wiederum Erblindung, schwache Abwehrkräfte und eine damit erhöhte Sterblichkeit verursachen, während Zinkmangel zu Wachstumsverzögerungen führen kann. Auch der Mangel an Jod, Vitamin B12 oder Folsäure zieht mitunter dauerhafte Schäden nach sich. Die Folgen betreffen nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Gesellschaften. 

Krisenverschärfer

Aber nicht nur Mangelernährung, sondern auch der klassische Hunger ist weithin ein großes Problem. Der Welthunger-Index 2020 stuft das globale Hungerniveau als „mäßig“ ein, er beruht allerdings auf Daten aus den Jahren 2015 bis 2019. Und schon damals zeigte sich, dass die Welt nicht auf Kurs war, um das zweite der 17 globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung – kein Hunger – bis 2030 zu erreichen: 2019 hatten rund 690 Millionen Menschen nicht genug zu essen. 47 Millionen Kinder unter fünf Jahren waren ausgezehrt, also zu leicht für ihre Körpergröße, und 144 Millionen Kinder wegen chronischer Mangelernährung unterentwickelt, also zu klein für ihr Alter. Zudem starben mehr als fünf Millionen Kinder vor ihrem fünften Geburtstag, laut Index häufig infolge von Unterernährung. 

Mangelernährung

Einzelne Länder unterscheiden sich hierin aber deutlich: Während die Hungersituation in konflikt- und krisengeschüttelten Ländern wie dem Tschad, Madagaskar, Somalia, Südsudan, DR Kongo und dem Jemen zuletzt als „sehr ernst“ eingestuft wurde, zeigten andere in den vergangenen Jahren Fortschritte. Dazu zählen Kamerun, Nepal, Angola und Äthiopien, die – auch aufgrund ihrer wirtschaftlichen Entwicklung – immer besser in der Lage waren, die eigene Bevölkerung zu ernähren. 

Allerdings gefährdet die Covid-Pandemie nun positive Trends. Wie Ökonomen des Internationalen Währungsfonds in einer neuen Studie anführen, sind die Lebensmittelpreise zwischen Mai 2020 und April 2021 weltweit um rund 25 Prozent gestiegen – der größte Anstieg seit zehn Jahren –, während die Einkommen vor allem in ärmeren Ländern gesunken sind. Damit dürfte die Vielfalt am Speiseplan für mehr Menschen unerschwinglich werden. Auch die pandemiebedingten Schulschließungen verschärften die Ernährungskrise. Laut einem Report des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen haben 2020 rund 370 Millionen Schüler im Durchschnitt 40 Prozent ihrer Schulmahlzeiten verpasst – für viele Kinder ist aber gerade die Schule der verlässlichste Ort für ausgewogene Mahlzeiten. 

Durch die Pandemie wird die Zahl der hungernden und fehlernährten Menschen wieder steigen, befürchten Ernährungsexperten wie Andreas Blüthner von der Bill & Melinda Gates Stiftung. Er hegt die Hoffnung, dass das Thema Ernährung endlich die Aufmerksamkeit bekommt, die es verdient. Derzeit läuft das Aktionsjahr „Nutrition for Growth“, das in zwei Großereignissen gipfeln wird: Dem UN Food Systems Summit im September in New York und dem Nutrition for Growth-Gipfel im Dezember in Tokio. „Das Aktionsjahr ist entscheidend, um Impulse und konkrete Zusagen für die Beendigung der Unterernährung in all ihren Formen bis 2030 zu schaffen“, sagt Blüthner und hofft auf finanzielles und politisches Commitment.

Interview mit Andreas Blüthner, Bill & Melinda Gates Stiftung

Andreas Blüthner, Gates Stiftung

Andreas Blüthner: Nichtstun ist keine Option

Die Zahl der mangelernährten Menschen hat sich durch Covid-19 vergrößert, warnt Andreas Blüthner, Direktor für Ernährung bei der Bill & Melinda Gates Stiftung.

Viele Puzzlesteine im Kampf gegen den verborgenen Hunger

Im Kampf gegen Hunger und Mangelernährung gibt es kein Patentrezept. Erforderlich sind vielfältige Maßnahmen von der Landwirtschaft über Hygiene und Gesundheit bis zur Bildung. Agrarforscher Cedric Habiyaremye setzt am Feld an: „Mangelernährung entsteht oft nicht, weil zu wenig, sondern weil das Falsche angebaut wird“, erklärt er. Neben Quinoa empfielt Habiyaremye Kleinbauern den Anbau von Sorghum, Fonio oder Amaranth. Diese Pflanzen könnten zudem auch dem fortschreitenden Klimawandel trotzen. 

Ein weiterer Ansatz ist, Risikogruppen Nahrungsergänzungsmittel zur Verfügung zu stellen. Die kanadische NGO Nutrition International versorgt laut eigenen Angaben jedes Jahr 150 Millionen Kleinkinder in 55 Ländern mit zwei Dosen Vitamin A. Durch diese Basissupplementierung verringere sich das Sterberisiko zwischen zwölf und 24 Prozent, berichtet die NGO. 

Eine umstrittene Möglichkeit bietet die Gentechnik. Schlagzeilen machte hier schon vor 20 Jahren der Goldene Reis: Das gentechnisch veränderte Getreide produziert Beta-Carotin, das der Körper zu Vitamin A umwandelt. Kritiker befürchten jedoch kaum abschätzbare Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt. Diversen Medienberichten zufolge wird Goldener Reis aber dennoch auf die Felder kommen: In Bangladesch könnte der Anbau heuer beginnen, auf den Philippinen 2023.

Wenn es darum geht, ganze Bevölkerungen mit Mikronährstoffen zu versorgen, ist Anreicherung oft das Mittel der Wahl – in Österreich durch die Jodierung von Salz bekannt. Dies ist eine weit verbreitete Methode. „Lag der Zugang zu jodiertem Salz 1990 bei unter 20 Prozent der globalen Haushalte, liegt er heute bei rund 90 Prozent“, sagte Venkatesh Mannar, ehemaliger Präsident der Micronutrient Initiative, vor kurzem in einem Webinar. „Durch eine gute Jodversorgung der Mutter profitieren jedes Jahr mehr als hundert Millionen Neugeborene.“ Für ihn ist Salz überhaupt der perfekte Träger für Mikronährstoffe, da das Würzmittel auch von armen Haushalten regelmäßig konsumiert wird und vergleichsweise preisstabil ist.

Mangelernährung
Der Kampf gegen Hunger und Mangelernährung erfordert vielfältige Maßnahmen.

Als Träger für Nahrungsmittelanreicherung dienen aber auch weitere Grundnahrungsmittel: Mehr als 80 Länder reichern Weizen, Mais oder Reis an. In Thailand gibt es Fischsauce mit Eisen, in Guatemala Zucker mit Vitamin A und in Pakistan Speiseöl mit Vitamin A und D. Das ist zudem eine kostengünstige Intervention, weil sich, sobald die Programme einmal aufgesetzt sind, Verbraucher und Industrie die Kosten teilen. „Jeder in Anreicherung investierte Dollar bringt einen 27-fachen Return, weil Krankheiten vermieden sowie Einkommen und Arbeitsproduktivität erhöht werden“, sagt auch Blüthner. Dabei bietet auch diese Maßnahme in der Praxis einige Herausforderungen – etwa wenn es um Skalierung und Einhaltung von Qualitätsstandards geht. Die Gates Stiftung arbeitet daher unter anderem mit indischen Behörden zusammen, um Standards und deren Einhaltung zu stärken, die Versorgung von besonders gefährdeten Menschen sicherzustellen und neuere Produkte – wie doppelt mit Eisen und Jod angereichertes Salz – zu verbreiten. 

Mangelernährung: Vielseitigkeit gefragt

Gute Ernährung muss nicht zuletzt auch leistbar und nachgefragt sein. Dazu hat beispielsweise das Welternährungsprogramm in Äthiopien eine Initiative lanciert, um den Speiseplan armer Familien gesünder zu gestalten. Diese erhalten per SMS Gutscheine, die sie bei kleinen Händlern gegen Obst, Gemüse und Eier einlösen können. Mit einer Kampagne auf Social Media versucht wiederum die Weltbank, indische Väter für eine ausgewogene Ernährung ihrer Kinder zu begeistern. Und die Global Alliance for Improved Nutrition GAIN hat kürzlich digitale Tools für Unternehmen herausgebracht, um gesündere Ernährung über den Arbeitplatz zu erreichen. Das Programm, dem sich Konzerne wie Olam International, Unilever und Google angeschlossen haben, setzt auf gesundes Essen in der Kantine, Aufklärung, Gesundheitschecks sowie Unterstützung für stillende Mütter. Bei GAIN hofft man, auf diesem Wege Millionen Menschen weltweit zu erreichen.

Fotos: GAIN, Stephan Gladieu/World Bank