Interview

Partei oder Panzer

Ausgabe 86 – Frühjahr 2020

Ryan Griffiths, US-amerikanischer Sezessionsforscher, wagt Prognosen zu der Frage, welche neuen Staaten wir zukünftig begrüßen werden.

Ryan Griffiths, Syracuse University
Sie haben Hunderte von Unabhängigkeitsbewegungen untersucht: Ist es, alles in allem, eine gute Idee, für einen eigenen Staat zu kämpfen?

Griffiths: Man sieht fast immer gute Gründe auf beiden Seiten: die Notwendigkeit für den Staat, die Ordnung aufrechtzuerhalten, und den Wunsch bestimmter Gruppen, ihr politisches Leben stärker zu bestimmen. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts geht der Trend deutlich in Richtung Zunahme von Staaten, auch wenn die meisten Separatisten scheitern. Ich nenne es das „Zeitalter der Sezession“. 

Einerseits wird Sezessionismus umso wahrscheinlicher, je autokratischer der Staat wird. Andererseits sind die Chancen auf friedliche Trennung in einer Demokratie besser. Inwiefern hängen die Erfolgschancen vom
Regimetyp ab?

Griffiths: Eine Demokratie macht es nicht wahrscheinlicher, dass die Regierung die Unabhängigkeit zulässt. In einer Demokratie wird von den Separatisten aber viel eher eine politische Partei gegründet und der Staatsapparat genutzt, wie es etwa die schottischen Nationalisten getan haben. Wenn man sich für die Unabhängigkeit einsetzt und die Wahl hat, entweder die britische Armee anzugreifen oder eine Partei zu gründen, ist die Entscheidung klar. In einem autokratischen Regime, in dem sich eine Gruppe für die Unabhängigkeit einsetzt, ist Gewalt hingegen viel wahrscheinlicher, weil es keinen Zugang zu demokratischen Instrumenten gibt.

Welche neuen Staaten könnten oder werden in den 2020er Jahren entstehen?

Griffiths: Bougainville wird der neueste Staat sein. Danach dürfte, im Zuge des Brexits, Schottland unabhängig werden. Wenn dies geschieht, wird es wahrscheinlich zu einem Auseinanderbrechen Großbritanniens und Nordirlands kommen. Dann gibt es einige Regionen, die die Möglichkeit haben, unabhängig zu werden, wenn die lokale Bevölkerung, die im Moment noch eher skeptisch ist, ihre Meinung ändert: Puerto Rico von den Vereinigten Staaten, die Cook-Inseln von Neuseeland oder Grönland von Dänemark. Und wenn Flandern unabhängig werden wollte, würde sich der belgische Staat wohl auflösen und in zwei Teile zerfallen. Spanien hingegen ist ein viel schwierigerer Fall: Ich glaube nicht, dass Katalonien in naher Zukunft unabhängig werden wird, auch wenn in der Sezessionspolitik so gut wie alles möglich ist.

Vielen Dank für das Gespräch!

Foto: Griffiths

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