corporAID: Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf Ihre globalen Wertschöpfungsketten? 

Krauter: Als Speditionsunternehmen sind wir von den Wertschöpfungsketten unserer Kunden abhängig. Die Pandemie hat uns in Schockwellen getroffen, die die gesamte Supply Chain durcheinandergebracht haben. Es kam zu extremen Verlagerungen zwischen Luft-, Schienen- und Seefracht – je nachdem, wo das Virus gerade dominant war. Im Februar ist unser Geschäft in vielen Regionen um die Hälfte zurückgegangen. Von März bis Mai hat die Luftfracht abgehoben, während die Seefracht mit dem Produktionsstopp in Europa ausgetrocknet ist. Derzeit reduzieren die Seefrachtlinien ihre Kapazitäten und die Leercontainer stapeln sich in Asien, während sie in Europa Mangelware sind. Das hat die europäischen Exporte stark behindert. Weil die Luftfracht nun fünfmal so teuer und die Seefracht durch Slow Steaming extrem langsam ist, läuft jetzt wiederum die transsibirische Route über die Schiene stark an. 

Haslacher: Auch wir haben eine Art Wellenbewegung wahrgenommen, mit zum Glück bis jetzt relativ geringen Auswirkungen. Wir liefern Systeme für sicherheitskritische Infrastrukturen, unsere Kunden sind in der Regel also Behörden. Wir hatten auftragsseitig sogar ein stärkeres erstes Quartal als vergangenes Jahr. Geholfen hat uns dabei unsere Aufstellung mit 500 Kunden in 140 Ländern: Im Februar ist unser komplettes Geschäft in China ausgefallen, doch China ist dann schon wieder hochgefahren, als das Virus nach Europa kam. Unsere Lieferketten waren wenig bis gar nicht betroffen. Denn wir sourcen mehr als 90 Prozent unserer Komponenten in Europa. Zudem haben wir aufgrund der sicherheitskritischen Systeme, die wir bis zu 20 Jahre instand halten müssen, immer alles auf Lager, um unsere Kunden auch in Notsituationen beliefern zu können. Langfristig problematisch kann die Einschränkung des Reiseverkehrs werden. Denn eine Flugsicherung lebt von der Anzahl der Flugzeuge in der Luft, und die sind auf zehn Prozent zurückgegangen. Daher sind jetzt die Staaten gefragt, Budgets für den Betrieb dieser sicherheitskritischen Infrastrukturen bereit zu stellen. 

Kühnel: Es sind nicht nur Regionen unterschiedlich betroffen, sondern auch Unternehmen – in Abhängigkeit von ihren Produkten. Manche Produkte, wie jene von Frequentis oder im medizinischen Bereich, braucht es jetzt umso mehr. In Österreich haben wir bei einer Reihe von Lieferketten eine starke Abhängigkeit von Italien – darunter leiden viele Firmen. Unternehmen, die aus Asien Produkte oder Komponenten beziehen, haben das Gröbste überstanden. China hat die Produktionen schon wieder massiv hochgefahren. Die wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen divergieren also in hohem Maße in Abhängigkeit vom Kunden- und Produktportfolio. Das ist eine Gelegenheit zu schauen, wie wir Lieferketten stärker diversifizieren können, um Abhängigkeiten zu reduzieren und in manchen Fällen die Kernproduktion sogar wieder nach Europa zurückzuholen, um gestärkt aus der Krise zu kommen. Dazu gehört auch, in gewissen Bereichen Globalisierung neu zu denken. 

Mariana Kühnel, WKÖ

In gewissen Bereichen werden wir die Globalisierung neu denken müssen.

Gibt es in der Wirtschaft eine neue Normalität?

Krauter: Das neue Normal ist noch nicht eingetreten. Das Unternehmen hat in der Krisensituation Dinge geleistet, die wir nicht für möglich gehalten hätten. Wir waren über Nacht zu 95 Prozent im Homeoffice – dass alles trotzdem weiterlief, war überraschend. In puncto Digitalisierung erwarte ich auf jeden Fall, dass es zu einem Kultursprung kommt und wir als Unternehmen einen enormen Schritt vorwärts machen. Ein weiterer Punkt ist, dass die gegenwärtige Rezession nicht von der Pandemie verursacht, sondern nur ausgelöst wurde. Es geht hier darum, dass immer produktiver immer mehr produziert wird – wir können gar nicht mehr verbrauchen, als wir produzieren. Da hätte ich den großen Wunsch, dass man das insbesondere angesichts der Umweltproblematik unseres Wirtschaftens erkennt und dass wir gerade in Österreich, wo wir nun einmal teuer produzieren, die Chancen dieser neuen Normalität nutzen. 

Haslacher: Als Familienunternehmen ist Frequentis generationendenkend geprägt. Daran hat auch unsere Börsennotierung nichts geändert: Kostenoptimierung waren nie der Treiber unserer Entscheidungen. Die Coronakrise wird diesen Zugang nur verstärken. Das Thema Homeoffice halte ich für ein zweischneidiges Schwert. Gerade im sicherheitskritischen Bereich haben wir eine Kultur, wo viel direkter Austausch stattfindet und auch Risiken mehrfach diskutiert werden. Diese Direktkommunikation geht uns schon ab. Zudem fehlt die Nähe zum Kunden. Gerade in unserer Branche sind Nähe und Vertrauen zum Kunden eine ganz wichtige Komponente des Geschäftsmodells. In Summe wird die Krise aber kulturverändernd sein. Wir pilotieren beispielsweise aktuell das Konzept einer virtuellen Business Unit, in der wir Ideen sammeln, was wir für unser Geschäft lernen und wie wir aus der Ausnahmesituation der vergangenen Wochen neue Geschäftsmodelle ableiten können. Es klingt vielleicht abgedroschen, aber jede Krise birgt auch Chancen. Noch vor drei Monaten wäre es undenkbar gewesen, dass ein Kunde in Thailand oder Kolumbien per Video ein System abnimmt und in Produktion gibt – da hätten zehn Leute hinfliegen müssen. Gerade in der sicherheitskritischen Infrastruktur musste bisher alles vor Ort stattfinden, unter dem wachsamen Auge des Kunden, doppelt und dreifach abgesichert. Hier wird der eine oder andere Kunde wohl künftig ein Stück weit nachdenken, ob nicht doch auch ein Software-as-a-Service-Modell in Frage kommt.

Kühnel: Die Krise hat uns sehr stark unsere Abhängigkeit von funktionierenden Lieferketten, einem funktionierenden Binnenmarkt und einer funktionierenden Globalisierung bewusst gemacht. Es ist selbstverständlich, dass wir unsere Produkte international anbieten können, ins Flugzeug steigen und nach 12 Stunden irgendwo anders auf der Welt wieder aussteigen können. Das ist jetzt alles nicht mehr selbstverständlich, und das Bewusstsein der Abhängigkeiten wird die Lieferketten sicherlich in Richtung Reshoring verändern. Zudem erleben wir einen unglaublichen Digitalisierungsschub, der ein enormes Potenzial für Effizienzsteigerungen birgt. Wir sind gerade dabei, ein Exportradar zu konzipieren, das weltweit Informationen von der Verbreitung der Pandemie über Einreisebestimmungen in den einzelnen Ländern bis zu Exportchancen zusammenführt, so dass die Unternehmen auf einen Blick sehen, wie sie sich in der neuen Globalisierung bewegen können. 

Stefan Krauter, cargo-partner

Die gegenwärtige Rezession wurde nicht von der Pandemie verursacht, sondern nur ausgelöst.

Wie sehen Sie die Auswirkungen dieser Krise im Hinblick auf Schwellen- und Entwicklungslandmärkte? 

Krauter: Es ist nicht leicht, die Pandemie als Auslöser von anderen Effekten zu trennen. Insgesamt rechne ich mit großen Auswirkungen auf Länder in Südostasien. Man hat nun schmerzvoll erlebt, was es heißen kann, wenn man alles auf eine Karte gesetzt hat und von einem Lieferanten abhängig ist. Es gibt daher sicher die Tendenz zur Diversifikation und darüber hinaus zu Near-Shoring, also dass man Produktionen beispielsweise statt in China eher in der Türkei ansiedelt. Die Türkei oder auch Ägypten werden zu den Profiteuren gehören. Aus der aktuellen Situation werden die schnellen, wendigen und entscheidungsfreudigen Unternehmen den größten Nutzen schlagen können, während die langsamen, zu vorsichtigen an Terrain verlieren werden. Gerade die europäische Wirtschaft tendiert im internationalen Vergleich leider zu Letzterem. 

Haslacher: Als Exportdestinationen sind die Emerging Markets für uns jetzt sicherlich weniger attraktiv als noch vor vier Monaten. Das Investitionsverhalten wird abhängig sein von deren Wirtschaftsentwicklung in den nächsten Jahren. Aber die drei Megatrends, die unsere Branchen betreffen – nämlich Sicherheit, Mobilität und Technologie – sind weiterhin valide. Der Wettlauf um ein Mehr an Flughäfen und Infrastruktur ist gerade in Asien spürbar. Indien möchte in den nächsten zehn Jahren 100 neue Flughäfen bauen, Indonesien 80 – das wird aufgrund der Pandemie nur kurzfristig auf Eis liegen. Afrika hingegen ist speziell, weil sich Stabilität, Sicherheit und Finanzierungsmöglichkeiten dort noch entwickeln müssen, bevor wir unsere Systeme liefern können. Trotz alledem ist der afrikanische Kontinent für mich ein interessanter Markt der nächsten zehn bis 15 Jahre, weil sich gerade dort das Flugaufkommen vervielfachen wird.

Kühnel: Schaut man sich lediglich Wirtschaftsprognosen an, sind Schwellen- und Entwicklungsländer weniger stark betroffen. Strukturell hingegen werden diese Länder vor großen Herausforderungen stehen, da deren Volkswirtschaften wesentlich verletzlicher sind – vor allem jene, die stark vom Rohstoffexport abhängig sind. Das wird ein großes Thema, gleichzeitig hat Corona in diesen Regionen enorm negative Auswirkungen auf das Pro-Kopf-Einkommen. Trotzdem glaube ich, dass Afrika weiter ein großer Chancenmarkt ist, den auszulassen sich niemand leisten kann. Gerade für österreichische Firmen, die stark in den Bereichen erneuerbare Energie, Abfallwirtschaft, Wasseraufbereitung, Gesundheit und Landwirtschaft aufgestellt sind, bietet der Kontinent unglaubliches Potential. Daher wollen wir als Außenwirtschaft in den kommenden Jahren einerseits österreichische Firmen in afrikanische Märkte bringen und andererseits ausloten, welche Lösungen diese Märkte brauchen und entsprechende Anknüpfungspunkte für österreichische Unternehmen identifizieren. 

Norbert Haslacher, Frequentis

Als Exportdestinationen sind die Emerging Markets jetzt sicherlich weniger attraktiv als noch vor vier Monaten.

Was braucht es, um die Wirtschaft Post-Corona nachhaltiger aufzustellen? 

Krauter: Zunächst einmal braucht es einen politischen Willen, wie ihn die EU ja stark artikuliert hat. Aber es braucht mehr. Unternehmen müssen die Chancen erkennen, die sich aus der Eröffnung neuer, nachhaltiger Märkte ergeben. Mit einem Mehr desselben werden wir unsere Probleme nicht beheben können, sondern es muss etwas Neues ausprobiert werden. Hier sollte eine Ebene höher gedacht und wirklich die Frage gestellt werden, in welche Richtung sich die österreichische Wirtschaft entwickeln soll und mit welchen ordnungspolitischen Instrumenten wir das sachte steuern können. 

Haslacher: Einige Unternehmen werden mit Sicherheit überdenken, ob Kosten die einzige Wahrheit sind, und sich langfristiger ausrichten, weg von kurzfristiger Gewinnoptimierung. Zudem haben viele Unternehmen schmerzvoll erfahren, was es bedeutet, von nur einem Land, einer Region, einem Kunden oder einem Produkt abhängig zu sein. Dem Thema Diversifikation wird durch diese Krise mit Sicherheit eine neue Bedeutung zukommen. Was das Thema Nachhaltigkeit betrifft, bin ich sehr glücklich darüber, dass unsere Mitarbeiter momentan wenig fliegen. Wir haben normalerweise tausende Flugreisen pro Jahr, das verursacht nicht nur enorme Kosten, sondern auch erschreckende CO2-Emissionen. Ich hoffe, dass fortan verstärkt in Frage gestellt wird, ob es wirklich notwendig ist, in die USA, nach Thailand oder Brasilien zu fliegen, um einen Kunden für zwei Stunden zu treffen. 

Kühnel: Die Europäische Kommission hat Ende Mai in ihrem überarbeiteten Arbeitsprogramm klar gemacht, dass der Europäische Grüne Deal nach wie vor eine der Prioritäten der Europäischen Union ist. Nachhaltigkeit ist sicher ein wesentliches Thema, aber wir müssen zunächst einmal schauen, dass wir die Recovery Phase gut schaffen. Wenn sich diese mit Klima- und Umweltschutz gut kombinieren lässt, dann freuen wir uns. Ich gehe davon aus, dass die Wertigkeit ein bisschen eine andere sein wird.

Vielen Dank für das Gespräch!


DIE GESPRÄCHSTEILNEHMER

Norbert Haslacher, Mariana Kühnel, Stefan Krauter (v.l.n.r.)
Norbert Haslacher, Mariana Kühnel, Stefan Krauter (v.l.n.r.)

Norbert Haslacher ist seit 2018 Vorstandsvorsitzender der Frequentis-Gruppe.

Mariana Kühnel ist seit 2018 stellvertretende Generalsekretärin der Wirtschaftskammer Österreich.

Stefan Krauter ist Gründer und CEO des österreichischen Logistikanbieters cargo-partner.

Fotos: Mihai M. Mitrea