Wer Obst isst oder verarbeitet, hält sich üblicherweise an die einfache Formel: Fruchtfleisch ja, Kerne nein. Das gilt für Kirschen, Avocados oder Mangos gleichermaßen. Eine Ausnahme ist die Kakaofrucht, denn sie wird vor allem aufgrund ihrer Samen geerntet. Die 20 bis 50 Bohnen, die sich in jeder der länglichen Früchte befinden, werden herausgelöst, fermentiert, getrocknet, geröstet und weiterverarbeitet, bis sie schließlich als Schokolade, Kakao oder Eis verzehrt werden. Bei der konventionellen Produktion wird nur ein kleiner Teil des weißen Fruchtfleischs für die Fermentation benötigt. Der größte Teil der Pulpe, die Bohnenschalen sowie die Fruchtschale werden hingegen entsorgt. 

Mindestens 80 Prozent der Frucht bleiben somit ungenutzt. Viel zu viel, sagen einige Hersteller und Forscher, und suchen innovative Wege der Resteverwertung. Denn dass in der ganzen Frucht Potenzial steckt, wissen die Kakaobauern in Côte d’Ivoire, Ghana, Ecuador oder Indonesien seit jeher. Sie essen die Kakaofrüchte frisch, pressen aus der Pulpe Saft oder bereiten Schalentee zu.

Köstlich im Ganzen

Das Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung in Deutschland gehört zu jenen Playern, die die industrielle Nutzung der Frucht erhöhen wollen. Seit 2019 läuft dazu das Forschungsprojekt „CocoaFruit“. Gemeinsam mit Industriepartnern sollen neue Zutaten aus den bisherigen Abfallprodukten entwickelt werden. Laut Verfahrensentwicklerin Susanne Naumann lohnt sich das: „Die Pulpe schmeckt tropisch frisch und fruchtig, ihr außergewöhnliches Aroma eignet sich für Drinks, Konfitüre und Joghurt. Und aus der Kakaofruchtschale lässt sich eine protein- und ballaststoffreiche Lebensmittelzutat gewinnen.“ Da die geringe Wertsteigerung der Kakaobohnen und Preisfluktuationen in den vergangenen Jahren große ökonomische und ökologische Folgen für Kakaobauern in Amerika, Asien und Afrika hatten, sieht die Expertin in den Verkaufsmöglichkeiten weiterer Bestandteile der Frucht auch Potenzial zur Armutsbekämpfung.

Tatsächlich gibt es bereits erste Produkte am Markt, die nicht nur auf die Bohne setzen. Pionierarbeit leistet der Schweizer Schokoladenproduzent Barry Callebaut, der Kunden wie Cadbury, Hershey‘s und Nestlé beliefert. Ende 2019 stellte der Konzern „Cacao-fruit Experience“ vor: eine Zutatenlinie aus Bohnen, Fruchtfleisch, der ballaststoffreichen Schale und dem fruktosehaltigen Saft der Kakaofrucht, die sich für Smoothies, Back- und Konditoreiprodukte, Snacks und Schokolade eignet. Mit Mondelez International ist bereits der erste Markenartikler auf den Zug aufgesprungen, unter der Marke CaPao sind in den USA Kakao-Bällchen und Fruchtstreifen erhältlich. Callebaut bietet außerdem mit „Wholefruit Chocolate“ eine nur aus Bestandteilen der Kakaofrucht gewonnene Schokolade, die dadurch 40 Prozent weniger Zucker enthält als herkömmliche Produkte. In den kommenden Monaten sollen Chocolatiers und Gastronomen damit arbeiten, 2021 könnte das Hundertprozent-Produkt auch im Handel angeboten werden. Es soll vor allem „Millennials und Centennials ansprechen, für die Lebensmittel nicht nur schmackhaft sein müssen, sondern auch gut für den Planeten“, sagt Bas Smit, Global Vice President Marketing. 

Die neue Linie hat aber nicht nur marketingtechnische Vorteile: Der effizientere Einsatz des Rohstoffs kann helfen, das Produktionsvolumen von Schokolade insgesamt zu erhöhen. Die Kakao- und Schokoladenhersteller sind auf Wachstum ausgerichtet, zumindest im Februar 2020 gingen Prognosen noch davon aus, dass der heute 43 Mrd. Dollar schwere Markt bis 2025 um jährlich mehr als fünf Prozent zulegen würde. Und nicht zuletzt würden, so Smit, auch die Anbauländer selbst profitieren: „Da nun die gesamte Ernte wertvoll ist, bedeutet dies auch mehr Wertschöpfung bei den Kakaobauern.“ 

Süß und sozial

Koa aus Ghana: Ein süßlicher Saft aus dem weißen Fruchtfleisch des Kakaos

Insbesondere letzteres ist für das Schweizer-ghanaische Start-up Koa ein zentrales Anliegen. Koa wurde 2017 von Anian Schreiber, Michael Acquah und Benjamin Kuschnik gegründet, um zu „nachhaltigem Wachstum im ländlichen Ghana beizutragen“ (siehe Interview). Koa stellt in einer eigenen Fabrik in Assin Akrofuom in Zentral-Ghana hundertprozentigen Kakaofruchtsaft her. Dafür musste ein eigenes Verfahren entwickelt werden, denn der Saft ist aufgrund des warmen Klimas hochempfindlich: Er wird mit einer mobilen Verarbeitungsanlage direkt bei den Bauern mithilfe von Solarenergie gewonnen und gekühlt. In der Fabrik, in der 35 Menschen einen Job gefunden haben, wird der Kakaofruchtsaft pasteurisiert und für den Export nach Europa und Japan abgefüllt. Er lässt sich als fruchtige Zutat in Pralinen oder als exotische Komponente in Cocktails verwenden. Der Schweizer Schokoladenhersteller Felchlin hat im Juli eine Kuvertüre auf den Markt gebracht, die nur aus bolivianischen Kakaobohnen und dem ghanaischen Saft als Süßungsmittel besteht. Seit kurzem wird Koa außerdem als „Majus – Jus de Cacao“ in Deutschland und als „Kumasi Juice“ in den Niederlanden verkauft. 

Auch das Baseler Start-up Kokojoo bemüht sich darum, Kunden für ein neuartiges Kakaogetränk zu begeistern: Kokojoo wird allerdings nicht aus dem Fruchtfleisch, sondern aus Kakaobohnenschalen gewonnen und ist mit oder ohne Koffein erhältlich. Gründer Dayog Kabore will aber mehr als nur Getränkehersteller sein. Sein erklärtes Ziel ist die vollständige Verarbeitung der Kakaofrucht zu neuen innovativen Produkten. Im August lancierte er daher eine Gesundheits- und Fitnesslinie, unter der Getränke, Riegel und Kekse mit Kakaobestandteilen auf den Markt kommen sollen. Wie den Koa-Gründern ist es für Kabore wichtig, möglichst viel Wertschöpfung in Westafrika zu schaffen – zudem plant er die Vermarktung von Kakaoprodukten in den Anbaugebieten selbst.

Interview mit Andrea Werdin, Marketingchefin bei Koa

Abfall mit Wert

Andrea Werdin, Marketingchefin bei Koa, ist überzeugt davon, dass Kakaofruchtsaft schon bald in aller Munde sein wird.

Kreativer Kakao

Bei der Nutzung der Kakaofrucht ist noch viel möglich. So finden die Bohnenschalen bereits Verwendung in der Kosmetikindustrie oder als Düngemittel. Das deutsche Start-up Spoontainable stellt essbare Löffel aus den Schalen der Bohnen her. Wenn 2021 in der EU Produkte aus Einwegplastik verboten werden, könnte vielleicht die Stunde des Kakaolöffels schlagen. Und die Unmengen an Verpackungen, die bei Takeaway-Bestellungen anfallen, lassen sich durch Mehrwegbehälter reduzieren – auch hier könnte Kakao eine Rolle spielen. Im Juli hat das Londoner Designstudio PriestmanGoode jedenfalls erste Behälter aus Bohnenschalen vorgestellt. So wie es aussieht, könnte die Kakaofrucht schon bald nicht mehr nur für Schokoladengenuss stehen.

Fotos: 2xKoa