Seit gut sechs Monaten beherrscht Covid-19 das Weltgeschehen, und ein Ende scheint noch lange nicht in Sicht. Kleine wie große Unternehmen auf der ganzen Welt sind auf noch nie da gewesene Weise gefordert. Die Krise rückt zudem Schwachstellen in globalen Lieferketten sowie prekäre Arbeitsbedingungen in bisher kaum beachteten Branchen wie beispielsweise der Fleischindustrie in den Fokus. Und obwohl die Pandemie einen unerwarteten Stresstest für die meisten Unternehmen darstellt, so haben viele auch auf die eine oder andere Weise Krisenhilfe geleistet. Mit der aktuellen Weltlage, so zeigt sich Alex Edmans, Professor für Finanzen an der London Business School vorsichtig optimistisch, könne es vielleicht sogar zu einer „Neudefinition von Verantwortung“ kommen. 

Alex Edmans, London Business School

Heuer im März, kurz vor Beginn der Krise, hat Edmans sein Buch „Grow the Pie – How Great Companies Deliver Both Purpose and Profit“ veröffentlicht. Darin motiviert er Unternehmen, viel stärker über den Zweck ihres Tuns zu reflektieren und zu überlegen, auf welche gesellschaftlichen Herausforderungen gerade sie überzeugende Antworten finden könnten. Von einer solchen Orientierung, so Edmans, profitieren Unternehmen letztendlich selbst, denn sie gewinnen an Reputation, Innovationsfähigkeit, Kundenzufriedenheit und Mitarbeiterloyalität. In der Corona-Pandemie sieht er nun einen möglichen Katalysator für Wandel: „Die Krise regt Führungskräfte an, über die vielfältigen Herausforderungen unserer Gesellschaft nachzudenken und zu überlegen, welche Ressourcen sie zu deren Bewältigung einsetzen können.“

Leitfaden für Nachhaltigkeit

An aktuellen Leitfäden und Orientierungshilfen für Unternehmen mangelt es nicht. Organisationen wie die OECD, UN Global Compact oder B Corporation, um nur ein paar zu nennen, haben dazu heuer fleißig Publikationen herausgebracht. In welcher Breite und Tiefe sich unternehmerisches Engagement in Krisenzeiten – und auch darüber hinaus – umsetzen lässt, ist beispielsweise im kürzlich veröffentlichten „Covid-19 Business Recovery“-Rahmen des Weltwirtschaftsrats für nachhaltige Entwicklung WBCSD nachzulesen. Die in Genf ansässige Plattform hat unter anderem eine Checkliste erstellt, mit der Unternehmen überprüfen können, ob sie in ihren aktuellen Businessplänen „die neue Normalität“ und Nachhaltigkeit ausreichend in Einklang bringen. 

Die Liste gliedert sich in mehrere Aktionsbereiche: Es geht erstens um die verantwortliche „Wiederöffnung“ des Unternehmens, zweitens um die Unterstützung von Stakeholdern und den Aufbau von Resilienz, und drittens um den Faktor Nachhaltigkeit als Wettbewerbsvorteil. Außerdem empfiehlt der WBCSD, den in diesen drei Bereichen erzielten Impact zu bewerten. Es bleibt aber nicht bei Überschriften: In insgesamt 29 Unterpunkten mitsamt 224 konkreten Maßnahmen geht die Checkliste praxisnah in die Tiefe. 

Manche Empfehlungen sind heute längst Alltag an vielen Arbeitsplätzen: Dazu zählen Hygiene- und Schutzmaßnahmen sowie soziale Distanzierung, um Covid-19-Ansteckungen zu vermeiden. Doch auch wenn Plexiglasscheiben an Supermarktkassen oder die Desinfektionsflascherl in Büros mittlerweile allgegenwärtig scheinen: Die Fleischindustrie oder auch die Logistikbranche zeigen, dass in puncto Gesundheitsschutz von Mitarbeitern noch Nachholbedarf besteht. Darüber hinaus sollten verantwortungsbewusste Unternehmen laut WBCSD flexible Arbeitszeiten zulassen, das Arbeiten im Homeoffice unterstützen und Mitarbeitern mit Betreuungspflichten entgegenkommen.

WBCSD-Checkliste

Orientierungshilfe

Damit in der neuen Normalität auch nachhaltiges Business ganz normal wird, hat der WBCSD einen Covid-19-Leitfaden für Unternehmen aller Branchen veröffentlicht – hier ein Auszug:

Big Spender

Auch philanthropisches Engagement ist gerade in Krisenzeiten gefragt. Tatsächlich waren Sach- und Geldspenden die unmittelbare Antwort auf die Pandemie quer durch alle Branchen. In Österreich hat beispielsweise die Erste Group dem Österreichischen Roten Kreuz eine Million Euro für die Finanzierung von Notfallkrankenstationen sowie für mobile Teams zur Verfügung gestellt. Der Möbelhändler IKEA unterstützte per Soforthilfe von einer halben Million Euro – hauptsächlich in Form von Sachspenden – etwa Obdachlosenunterkünfte und Frauenhäuser. Die OMV gab Tankfüllungen im Wert von einer halben Million Euro für Hilfsflüge für den Transport von Schutzanzügen, Masken und Desinfektionsmittel frei. In Auslandsmärkten wie Libyen, Serbien, Tunesien oder Moldau leistete der Konzern zudem Akuthilfe in Form von Nahrungsmittelpaketen oder medizinischen Produktspenden. Microsoft Österreich stellte Krankenhäusern die Kollaborationsplattform Microsoft Teams für sechs Monate kostenlos zur Verfügung, während Anlagenbauer Christof Industries steirische Spitäler mit einem Desinfektionsgerät bei der Wiederaufbereitung von Masken half. Laptops, Monitore und Drucker für sozial benachteiligte Schüler wurden vom Halbleiterhersteller Infineon Austria und dem Beschlägespezialist Blum zur Verfügung gestellt, während in den Großküchen des Wiener Restaurants Steirereck sowie des Intercontinental Hotels Wien Gratismahlzeiten für Krisenhelfer und Senioren zubereitet wurden. 

„Man muss aber nicht unglaublich erfolgreich sein, um etwas für die Gesellschaft zu leisten. Jedes Unternehmen egal welcher Größe hat Ressourcen, mit denen es helfen kann“, regt Alex Edmans zu Kreativität in der Krise an. Im Idealfall sollten Unternehmen den Fokus auf Beiträge legen, die drei Prinzipien berücksichtigen. „Erstens geht es um Multiplikation: Wer einen Euro investiert, soll damit einen höheren Wert schaffen. Zweitens sollte man auf den komparativen Vorteil achten: Was kann das Unternehmen richtig gut? Was macht es besser als der Mitbewerb?“ Und drittens, so Edmans, gehe es um Wesentlichkeit: „Idealerweise unterstützt man Anliegen und Stakeholder, die für das Unternehmen besonders relevant sind.“

Filtervlies von Borealis für besonders wirksame Gesichtsmasken.

Versorgungslücken

Auch der WBCSD empfiehlt Unternehmen, ihre besonderen Kompetenzen einzusetzen und auf Engpässe bei wichtigen Produkten und Dienstleistungen zu reagieren. Seit dem globalen Ausbruch von Covid-19 ist die Nachfrage nach Beatmungsgeräten bekanntlich weltweit stark gestiegen. Das Technologieunternehmen AT&S wurde kurzerhand zum gefragten Lieferanten lebensrettender Technologien und stellte am Standort in Indien auf die Produktion von Leiterplatten für Beatmungsgeräte um. Der Frucht-, Zucker- und Stärkekonzern Agrana avancierte wiederum zum Desinfektionsmittelanbieter. Zunächst lieferte das Unternehmen Alkohol, der ursprünglich als Zusatz zu Treibstoffen gedacht war, an die weiterverarbeitende Industrie. Mittlerweile stellt die Firma selbst Flächen- und Handdesinfektionsmittel her. Dazu werden auch Überschüsse heimischer Weinbauern genutzt.

Eine große Anzahl von Unternehmen hat ihre 3D-Drucker umprogrammiert oder ihre Spritzgussmaschinen umgerüstet, um den sprunghaft erhöhten Bedarf an Schutzausrüstung zu decken. So adaptierte der Feuerwehrtechnikhersteller Rosenbauer Komponenten eines Feuerwehrhelmes zu einem Gesichtsschutz und der Kunststoffverarbeiter Payer hat in Kooperation mit der TU Graz mit der Fertigung von Gesichtsschutzschildern begonnen. Auch der Kunststofferzeuger FT-TEC und der Werkzeugmacher Haidlmair gehören zu den neuen Namen im Geschäft mit den transparenten Face Shields.

Innovativ und kooperativ

Viel Bewegung war auch in der Sparte OP-Masken und Mundnasenschutz zu beobachten: Aufgrund der starken Nachfrage ist beispielsweise der Textilhersteller Wolford längerfristig in die Maskenfertigung eingestiegen und hat in einem slowenischen Werk eine Produktionslinie mit einer Kapazität von circa 10.000 Stoffmasken pro Tag eröffnet. Und auch in einer ehemaligen Dessous-Fabrik in Wiener Neudorf ist seit Ende April eine moderne Produktionsanlage in Betrieb. Die „Hygiene Austria LP GmbH“, ein Joint Venture der Unternehmen Lenzing und Palmers Textil, produziert dort Mundnasenschutz-, FFP2- und Kindermasken mit einer monatlichen Kapazität von zwölf Millionen Stück, die sich bei Bedarf noch verdoppeln lässt. Ein zweiter Standort des Joint Venture wurde bereits in Großbritannien eröffnet. Eine kleinere Kooperation ist auch der Kunststoffhersteller Borealis mit der Wiener Büroartikelmarke Paper Republic eingegangen: Die gemeinsame Sozialinitiative „Mask Republic“ stellt wiederverwendbare Gesichtsmasken mit speziellem Polyolefin-Kunststoff her, die eine bis zu viermal bessere Filterleistung als herkömmliche, handgenähte Alternativen bieten sollen. Und das Medizintechnikunternehmen MED-EL arbeitet an einer neuartigen „aktiven“ Atemmaske, die einen viruziden Sprühnebel abgibt und so den Träger gegen eine Ansteckung mit Covid-19 schützen soll. 

Eines scheint gewiss: Die aktuelle Krise bietet vielfältige Chancen zur Innovation, Kooperation – und zur Demonstration von Verantwortungsbewusstsein. Doch Verantwortung sollte sich nicht nur auf Akuthilfe beschränken, sondern im Idealfall im Unternehmen institutionalisiert sein: Indem man, wie es der WBCSD vorschlägt, nach und nach lange Checklisten abarbeitet, oder, wie es Alex Edmans vorschlägt, eine überzeugende Antwort auf folgende Frage findet: „Inwiefern ist die Welt ein besserer Ort, weil es unser Unternehmen gibt?“

Fotos: Istock/Martin Dimitrov, Alex Edmans, Borealis

SEIFEN, SCHECKS & KNOW-HOW

Weltweit haben Unternehmen Krisenhilfe geleistet – eine Auswahl:

Der niederländisch-britische Konsumgüterkonzern Unilever und das brasilianische Kosmetikunternehmen Natura & Co spendierten Millionen Packungen an Seifen und Desinfektionsmitteln und engagierten sich in Hygiene-Aufklärungskampagnen. Automobilriesen wie General Motors und Ford (USA) oder auch der türkische Haushaltsgerätehersteller Arçelik begannen mit der Herstellung von Beatmungsgeräten. Luxusgüterhersteller LVMH und Kosmetikriese L’Oréal (FR) haben in ihren Fabriken Desinfektionsmittel produziert, während Italiens Luxuslabels Prada und Armani temporär auf das Schneidern von Schutzmänteln umsattelten. Die Rivalen Apple und Google (USA) entwickelten gemeinsam Grundlagen für Apps, die für die Nachverfolgung der Kontakte von Covid-19-Infizierten eingesetzt werden. US-Streamingdienstleister Netflix machte 150 Mio. Dollar locker, um die schwer gebeutelte Kreativindustrie von Indien über Brasilien bis Großbritannien zu unterstützen. Chinas Tech-Riese Tencent stellte 100 Mio. Dollar für einen „Global Anti-Covid-19“-Fonds auf und der ebenfalls chinesische Retailriese JD.com belieferte isolierte Dorfbewohner in Nordchina mittels Drohnen. Das chinesische Molkereiunternehmen Mengniu kaufte trotz sinkender Nachfrage weiterhin Milch von Bauern zu und lagerte sie als Pulver ein. Kenias Mobilfunkkonzern Safaricom verzichtete bei kleineren mobilen Geldtransfers auf Gebühren. South African Breweries spendete Alkohol für die Herstellung von Desinfektionsmittel und kümmerte sich auch um die landesweite Verteilung in Südafrika.