Guy Ryder ist in diesem Jahr noch einmal deutlich öfter in der Weltgeschichte unterwegs als gewöhnlich. Der Brite ist seit 2012 Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen mit Hauptsitz in Genf, die heuer ihr hundertjähriges Bestehen feiert. Im Rahmen der zahlreichen Jubiläumsfeiern in allen Ecken der Welt spricht Ryder nicht nur von einem Meilenstein, sondern auch von einer wichtigen Gelegenheit, „um über den Zweck und den Kurs der ILO nachzudenken, den wir gemeinsam für die Zukunft festlegen wollen.“ 

Auf Augenhöhe

Zweck der ILO ist seit jeher die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen aller Menschen. Bei der Gründung war sie vor allem auf die Situation im nach dem Ersten Weltkrieg zerrütteten Europa ausgerichtet: Der Fokus lag auf dem Schutz und der Stärkung der Rechte von Fabrikarbeitern. Die ersten Grundsätze, auf die sich die 44 Gründungsstaaten einigten, erschienen damals progressiv, sind aber zumindest in unseren Breitengraden heute selbstverständlich: Darunter fanden sich etwa der Acht-Stunden-Tag, eine wöchentliche Ruhezeit von mindestens 24 Stunden und die Zahlung angemessener Löhne. „Ein wichtiger Teil der Gründungsidee der ILO ist, dass soziale Gerechtigkeit eine Voraussetzung für dauerhaften Frieden ist und somit sozial- und arbeitsrechtliche Fragen nicht nur eine innenpolitische, sondern stets auch eine internationale Dimension haben“, so der Historiker Daniel Maul, der sich mit der Geschichte der Institution intensiv befasst hat (siehe Interview). 

Seit 1919 bringt die ILO Regierungen, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter aus nunmehr 187 Mitgliedstaaten zusammen, um bei der einmal jährlich tagenden Internationalen Arbeitskonferenz – dem höchsten Organ der ILO – weltweit gültige Arbeitsnormen zu definieren sowie Strategien und Programme zu entwickeln, die menschenwürdige Arbeit für alle ermöglichen sollen. 

Interview mit Daniel Maul, Universität Oslo

Daniel Maul, Universität Oslo

Der Mensch im Fokus

Der Historiker Daniel Maul sieht auch künftig eine große Rolle für die Internationale Arbeitsorganisation.

Einzigartig dabei ist damals wie heute das dreigliedrige Prinzip, demzufolge sich sämtliche Gremien der ILO aus Vertretern von Staaten, Arbeitgebern und Gewerkschaften zusammensetzen. Österreich – von 1919 bis 1938 und seit 1947 Mitglied der ILO – ist durch Vertreter des Sozialministeriums, der Industriellenvereinigung sowie des Österreichischen Gewerkschaftsbunds ÖGB und der Arbeiterkammer bei der Internationalen Arbeitskonferenz vertreten. „Da hier Regierungen, Gewerkschaften und Verbände der Arbeitgeber auf Augenhöhe neue Standards verhandeln, kommt es immer wieder zu durchwegs konfliktreichen und langwierigen Auseinandersetzungen, die nicht immer jene schnellen Antworten liefern, die man sich wünscht. Aber nur so kann ein stabiler Interessenausgleich zwischen Arbeit und Kapital gewährleistet werden“, betont Isabelle Ourny, internationale Sekretärin im ÖGB.

Bis heute wurden von der Internationalen Arbeitskonferenz 190 Übereinkommen und 206 Empfehlungen zu einer Vielzahl arbeitsrelevanter Aspekte – von Beschäftigungs- und Lohnpolitik bis hin zu Sicherheit am Arbeitsplatz, Mutterschutz und informeller Beschäftigung – verabschiedet. Erstere stellen verbindliche, internationale Verträge dar, welche von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden und deren Umsetzung überwacht wird. Empfehlungen wiederum sind nicht-bindende Leitprinzipien, die den Ländern bei der Umsetzung der Übereinkommen Orientierung geben sollen.

Mehr als Standards

Im vergangenen Jahrhundert hat sich nicht nur die Arbeitswelt gewandelt, sondern auch die Rolle der ILO. Erster großer Wendepunkt war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die sukzessiv wachsende Zahl an Mitgliedstaaten – allen voran die USA und die Sowjetunion, im Zuge der Entkolonialisierung aber auch zahlreiche neue Staaten Asiens und Afrikas. Damit verschoben sich erstmals die Interessen innerhalb der ILO, was zum einen zur Verabschiedung einer Reihe von Schlüsselübereinkommen wie jenen zur Vereinigungsfreiheit und dem Recht auf Kollektivverhandlungen führte. Zum anderen richtete sich der Fokus vermehrt auf einen wichtigen zweiten Grundpfeiler der ILO – die Unterstützung bei der Umsetzung von arbeits- und sozialrechtlichen Standards.

Schon seit den 1950er Jahren berät die ILO verstärkt Regierungen bei der Gestaltung ihrer Arbeits- und Sozialpolitik durch verschiedene Formen der technischen Entwicklungszusammenarbeit. „Diese Aufgabe hat die ILO vor allem deswegen übernommen, weil darin das Hauptinteresse der Entwicklungsländer lag: Internationale Arbeitsstandards haben deren Situation oftmals nicht widergespiegelt, vielmehr wünschten sich diese Länder vor allem praktische Unterstützung beim Aufbau ihrer Industrien und Ausbildungssysteme“, weiß Maul. Das erste große ILO-Programm für technische Zusammenarbeit, das Andenprogramm, startete 1952 in Peru, Bolivien und Ecuador. 2018 gab die ILO in Summe 252,6 Mio. Dollar für 866 Projekte in Schwellen- und Entwicklungsländern aus. Zum Vergleich: Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen UNDP steckte 2018 knapp 4,4 Mrd. Dollar in rund 4.700 Projekte.

Vom Lauf der Weltgeschichte weitgehend unberührt blieb hingegen ein weiterer essenzieller Arbeitsbereich der ILO: die Forschung. „Gerade am umfassenden Archiv und der laufenden Erhebung von sozial- und arbeitspolitischen statistischen Daten auf der ganzen Welt haben viele Länder ein großes Interesse. Nirgendwo sonst kann man so gut Best Practices der Sozialpolitik im internationalen und historischen Vergleich studieren“, betont Maul.

Farmarbeiterin
Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz ist seit den 1970er Jahren ein wichtiger Wirkungsbereich der ILO.

Globaler Fokus

Ab 1977 rückten mit der Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik zunehmend die Arbeitsbedingungen in globalen Wertschöpfungsketten in den Fokus der ILO. Zu den wohl wichtigsten und bekanntesten ILO-Arbeitsstandards zählen bis heute jene acht Übereinkommen, die 1998 zu den so genannten Kernarbeitsnormen, also grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit, erklärt wurden. Dazu gehören das Verbot von Zwangsarbeit und Kinderarbeit, die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Kollektivverhandlungen sowie das Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf.

Mit der Erklärung von 1998 erhielten die acht ILO-Kernarbeitsnormen den Status von Menschenrechten und damit universelle Gültigkeit – unabhängig davon, ob Mitgliedstaaten die Normen ratifiziert haben. „Die Erklärung der Kernarbeitsnormen war ein kluger Schachzug, der die ILO in die Offensive gebracht und aus einem stetigen Bedeutungsverlust herausgeholt hat“, betont Maul. Ein Jahr später wurde Juan Somavia ILO-Generaldirektor, als erste Amtshandlung stellte er die Arbeit der ILO unter den Begriff der menschenwürdigen Arbeit – der „Decent Work“. Die Decent Work Agenda ist bis heute von großer Bedeutung, denn in diesem Rahmen gelang es der ILO, ihre Ideen und vor allem die Kernarbeitsnormen in andere internationale Gremien einfließen zu lassen. So beziehen sich etwa die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen und die VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte auf die ILO-Kernarbeitsnormen. Und nicht nur das: „Dass menschenwürdige Arbeit Teil der Millenniumsentwicklungsziele und zuletzt auch der Sustainable Development Goals geworden ist – das ist ein großer Erfolg und hat die Sichtbarkeit der ILO enorm erweitert“, so Maul.

Menschenwürdige Arbeit für alle

Die ILO hält heute die Schirmherrschaft für 14 der 169 Indikatoren der globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung inne. Von deren Erreichung bis 2030 sind wir allerdings noch weit entfernt: Nach wie vor sterben laut Statistiken der ILO jedes Jahr rund 2,8 Millionen Menschen an den Folgen von Sicherheits- und Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz. Auch Kinder- und Zwangsarbeit ist in vielen Ländern immer noch Realität: Knapp 152 Millionen Kinder gehen statt zur Schule einer Arbeit nach, 25 Millionen Menschen müssen gegen ihren Willen arbeiten. Hinzu kommen ganz neue Arbeitsrealitäten angesichts globaler Wertschöpfungsketten, der Digitalisierung der Arbeitswelt und der zunehmend verschwimmenden Grenze zwischen dem Unternehmer- und Arbeitnehmerbegriff.

Isabelle Ourny, ÖGB
Isabelle Ourny, ÖGB

Nicht zuletzt um einen Austausch zu solchen Zukunftsfragen zu ermöglichen, rief die ILO bereits 2013 sieben Initiativen ins Leben, welche ihre Arbeit im kommenden Jahrhundert anleiten sollen. „Themen wie die Digitalisierung der Arbeitswelt, Migration, Klimawandel, Einkommensungleichheit, und Verhandlungsmacht innerhalb globaler Lieferketten wurden in der Jahrhundertinitiative „Zukunft der Arbeit“ aufgelistet, es wurden aber leider keine Lösungsvorschläge definiert. Daran muss weitergearbeitet werden“, kritisiert Ourny vom ÖGB.

Ähnlich kritisch sehen insbesondere Beobachter aus den Gewerkschaften seit jeher die Tatsache, dass die ILO mit ihrem Überwachungssystem lediglich über einen moralischen Zeigefinger verfügt, wenn Mitgliedstaaten die Vorgaben ratifizierter Übereinkommen nicht einhalten. In den kommenden Jahren wird es also nicht nur um die thematische Ausrichtung der ILO gehen – aktuell befasst sie sich etwa insbesondere mit einem gerechten Übergang zu einer klimafreundlichen Wirtschaft – sondern auch um grundlegende strukturelle Fragen.

Dass das Mandat der ILO als internationale Regelungsinstanz zu Arbeitsrechten auch in Zukunft ein sehr wichtiges sein wird, steht jedenfalls außer Frage. Denn wenn die Geschichte etwas gezeigt hat, dann wohl eines: Politics matter.


Rückblick

100 Jahre ILO

Die Internationale Arbeitsorganisation blickt auf eine bewegte Geschichte zurück, die von den wirtschaftlichen und sozialen Realitäten ihrer Zeit geprägt war. Eine paar Meilensteine:

1919

Gründungsjahr
Die ILO wird im Rahmen des Friedensvertrags von Versailles als Teilorganisation des Völkerbundes gegründet.

1944

Erklärung von Philadelphia
Die ILO erneuert das Bekenntnis zu den Prinzipien ihrer Verfassung.
Die Prämisse: „Arbeit ist keine Ware.“

1946

Weltweite Neuordnung
Die ILO wird zur ersten Sonderorganisation der neu gegründeten Vereinten Nationen.

1949

Technische Hilfe
Erste Schritte werden gesetzt, um Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von ILO-Normen zu unterstützen.

1969

Nobelpreisträger
Zum 50-jährigen Bestehen wird der ILO für ihre Bemühungen der Friedensnobelpreis verliehen.

1977

MNU-Erklärung
Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik

1984

Erster Weltarbeitsbericht
Die zentrale Publikation zur weltweiten Entwicklung der Arbeitsmärkte wird erstmals veröffentlicht.

1998

Kernarbeitsnormen
Erklärung über die fundamentalen Prinzipien und Rechte bei der Arbeit

1999

Decent Work Agenda
Die Arbeit der ILO wird unter den Schirm von menschenwürdiger und produktiver Arbeit für alle gestellt.

2008

Globalisierung
Die ILO bezieht Stellung zu einer sozialen und fairen Globalisierung.


 
Fotos: ILO/Asrian Mirza, Universität Oslo, ILO/Maxime Fossat, ILO Historical Arichve, beigestellt