corporAID: Welche Lehren können wir aus der Pandemie ziehen?

Andreas Treichl: Die größte Lehre ist, dass wir in vielen Bereichen mit der Globalisierung der Wirtschaft nicht mitgezogen haben. Was uns in der Krise hart erwischt hat, ist, dass wir übersehen haben, dass eine zunehmend globalisierte Wirtschaft und größere Mobilität der Menschen Anlass hätte geben müssen, viel stärker auch an der Globalisierung des Gesundheitswesens zu arbeiten. Man kann nur hoffen, dass diese Krise ein Weckruf für Politik und Wirtschaft ist, sich diesem Thema wesentlich intensiver als bisher zu widmen.

Die zweite große Lehre ist, dass eine schnelle Globalisierung der Umweltpolitik und hier vor allem des Klimaschutzes dringend notwendig ist. In den vergangenen Jahren gab es eine enorm rasche Entwicklung, und ich glaube, dass diese ohne die Fridays for Future-Bewegung wohl nicht zustande gekommen wäre. Der Aktivismus der Jugend hat die Politik dazu getrieben, sich mit dem Thema wesentlich intensiver auseinanderzusetzen. Die Herausforderung dabei ist, dass das Thema extrem komplex ist und es sehr unterschiedliche Sichtweisen dazu gibt – auch bei jenen, denen das ein echtes Anliegen ist.

Wir haben übersehen, auch an der Globalisierung des Gesundheitswesens zu arbeiten.

Wie wird sich der Klimaschutz weiter entwickeln?

Treichl: Man hat das Gefühl, dass Klimaschutz eine zentrale Priorität der EU ist. Aber es kommen grundlegende Diskussionen auf uns zu, weil es sehr unterschiedliche Sichtweisen gibt. Wie wird die Entscheidung in der EU in Bezug auf Kernenergie fallen? In Finnland wird die Mehrheit der Bevölkerung sagen, dass Atomkraftwerke zu den klimafreundlichen Energiequellen gehören. In Österreich werden Sie sicher eine andere Antwort erhalten. Wie formulieren wir eine vernünftige Politik in der EU? Wenn Sie in vielen Ländern Zentral- und Osteuropas mit Politik und Wirtschaft reden, sagen die: „Ja, das ist alles schön und gut, aber wir sind dreißig Jahre zurück. Wir müssen erst einmal aufholen.“ 

Trotzdem müssen hier zeitnah Entscheidungen getroffen werden. Wenn wir in Europa also jetzt zu dem Schluss kommen, dass Klimaschutz die absolute Priorität hat, dann hat das zur Folge, dass Arbeitsmarktpolitik und andere wichtige wirtschaftliche Themen untergeordnet werden müssen. Und das heißt im Endeffekt, dass man zur Reduktion von Umweltschäden in Kauf nehmen muss, dass wesentliche Teile der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Lebens leiden werden. 

Das klingt sehr pessimistisch. Können nicht Innovationen Wohlstand und Klimaschutz unter einen Hut bringen?

Treichl: Also, ich bin grundsätzlich sehr optimistisch. Mit Digitalisierung und künstlicher Intelligenz werden wir unfassbare Fortschritte machen. Es kommen natürlich auch große Fragen auf uns zu: Welche Auswirkungen werden Innovationen haben, welche Folgen wird es für demografische Verhältnisse, für die Wohlstandsverteilung oder Arbeitsplätze geben? Denn es ist nicht zu erwarten, dass dadurch viele neue Arbeitsplätze entstehen werden, dass all die Jobs, die wegfallen, auch ersetzt werden können. Das ist nicht einfach zu lösen. 

Woran liegt es, dass gerade in Österreich die Rolle der Unternehmen für unser Wohlstandsmodell wenig gesehen wird? 

Treichl: Das ist eine Art natürlicher Reflex in der Politik. Gerade in Ländern wie Österreich wird die Wirtschaft nicht unbedingt per se als etwas Positives angesehen. Man setzt sie oft mit Reichtum und Ausbeutung gleich. Unternehmer haben bei uns ein schlechteres Image als zum Beispiel in Schweden oder in den USA. Das kann man aber jetzt keinem einzelnen Politiker umhängen. Das ist eine jahrzehntelange verfehlte Diktion in der Politik, und das ist auch ein Problem, das wir in unserem Schulsystem haben. 

Wo sehen Sie Herausforderungen in Bezug auf die Globalisierung für Österreich? 

Treichl: Es muss uns bewusst sein, dass bei vielen wesentlichen Fragen für Gesellschaft und Wirtschaft jeder einzelne Staat nicht nur seinen Beitrag leisten, sondern auch aktiv daran mitarbeiten muss, dass sich die Kooperation in der Staatengemeinschaft verstärkt und verbessert. Österreich ist Mitglied der Europäischen Union und damit einer Staatengemeinschaft, die groß und stark genug ist, um Einfluss auf die Weltpolitik zu nehmen. Die Stärke und die Wirksamkeit dieses Einflusses hängen allerdings sehr stark davon ab, welche Bedeutung die einzelnen Mitglieder dem Zusammenhalt dieser Staatengemeinschaft geben. Und da könnte Österreich eine proaktive und positive Rolle spielen, tut es aber nicht immer. 

Liegt das auch daran, dass in Österreich die Think Tanks fehlen? 

Treichl: Ich denke nicht, dass die Anzahl der Think Tanks für die Qualität der Politik entscheidend ist. Es ist eher die Frage, ob die richtigen Themen angesprochen werden und ob die Politik bereit ist, sich mit den Ergebnissen der Think Tanks auseinanderzusetzen. Und wir leben in einer Zeit des Aktivismus. Think Tanks sind üblicherweise keine Aktivisten, sondern sachbezogene Analytiker. Und leider sehen wir gerade bei den wesentlichen Fragen der Zukunft, dass sachbezogene Lösungsvorschläge in den Hintergrund rücken. Wir sehen in vielen Ländern eine relativ starke Tendenz in Richtung einer auf das Wahlverhalten bezogenen Politik.

Alpbach soll wieder ein Ort des Aktivismus sein.

Was kann Österreich für eine bessere Welt beitragen? Und welche Rolle soll das Europäische Forum Alpbach, das Sie als neuer Präsident gestalten wollen, dabei spielen?

Treichl: Österreich ist ein Land mit vielen Vorteilen und es ist auch ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen können, eben weil wir so viel anzubieten haben. Und das ist im Wesentlichen das, was ich mit Alpbach machen möchte – was Alpbach ja auch immer war. Ich glaube, dass wir uns für die nächsten Jahre noch näher als in der Vergangenheit am Namen des Forums orientieren sollten. Es gibt kein anderes Format dieser Form, das sich Europa so spezifisch widmet, und wo die Jugend eine wirklich wichtige und tragende Rolle spielen soll. In Alpbach können junge Menschen den Prozess des Entstehens, des Arbeitens und des Funktionierens und Nichtfunktionierens, der Probleme und der Vorteile der Europäischen Union miterleben und wirklich verstehen. Die EU ist ja eine unfassbare Erfolgsgeschichte, die jetzt allerdings – das will ich nicht bestreiten – eine Pause eingelegt hat. 

Alpbach soll ein Ort sein, wo junge Menschen aus aller Welt zusammenkommen, um die Politik dazu zu bringen, dass wir wieder an diese europäische Erfolgsgeschichte anschließen. Und das heißt, dass Alpbach auch wieder ein Ort des Aktivismus werden soll. Ein Ort, an dem die Politik in Europa spürt, dass das den jungen Menschen ein echtes Anliegen ist. Und da gibt es neben der Umwelt natürlich viele weitere wichtige Themen – die Wirtschaft und das soziale Gefüge Europas sowie auch die Möglichkeit, in Innovationen und neuen Industrien führend mit dabei zu sein. 

Also soll Alpbach ein wirklich europäisches Forum sein, weit weg von der österreichischen Realpolitik?

Treichl: Für viele Leute ist Alpbach so etwas wie ein intellektuelles Kitzbühel. Menschen, die sich ohnehin in Wien, in Graz und in Linz treffen, treffen dann wieder in Alpbach in ihren Branchen zusammen. Das ist etwas sehr Gemütliches, und das ist auch etwas sehr Wertvolles. Aber das ist nicht, wofür Alpbach geschaffen wurde. Hier Dinge zu ändern, wird nicht ohne Brösel vonstattengehen. Und wir spüren schon jetzt ein bisschen die Brösel.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Jung & europäisch

Vorstand des Europäischen Forums Alpbach
Alpbach-Vorstand (v.l.n.r.): Katja Gentinetta (Philosophin), Florence Gaub (EU-Institut für Sicherheitsstudien EUISS), Marie Ringler (Ashoka), Katarzyna Pisarska (European Academy of Diplomacy), Michaela Fritz (MedUni Wien) und Präsident Andreas Treichl

Andreas Treichl, 69, folgte Ende 2020 dem früheren EU-Kommissar Franz Fischler als Präsident des Europäischen Forums Alpbachs nach. Mit Generalsekretär Werner Wutscher und einem fünfköpfigen Vorstandsteam (siehe Bild) an der Seite will Treichl die Rolle Europas für die Welt im Rahmen des 1945 gegründeten Kongresses wieder stärker betonen und junge Teilnehmer aktiv einbinden. Unter dem Leitthema „The Great Transformation“ dreht(e) sich der heuer ausschließlich englischsprachige interdisziplinäre Dialog um die Schwerpunkte Chancen aus der Klimakrise, die Finanzierung von Europas Zukunft sowie Sicherheit. Die Anzahl der Symposien wurde von sechs auf vier (Gesundheit, Wirtschaft, Politik und Technologie) reduziert.

 

Bilder: Bernhard Weber, Luiza Puiu