Auf Youtube gibt es viel zu entdecken. Eine kreative und fleißige Community befüllt die Videoplattform laufend mit neuen Inhalten. Die Corona-Pandemie hat beispielsweise einen südkoreanischen Zahnarzt veranlasst, ein Informationsportal zum weltweiten Infektionsgeschehen online zu stellen. Quasi als Livestream lassen sich damit aktuelle Entwicklungen rund um „Total Cases“, „Total Deaths“ und „Total Recovered“ verfolgen. Zusätzlich bietet das virtuelle Zählwerk Diagramme, Weltkarten und Länderdaten und untermalt den steten Informationsfluss mit teils melodramatischer Instrumentalmusik.

Die Agenda 2030 als Fortschrittskatalog

Anfang Dezember vermeldete das Zahlenportal bereits 64 Millionen Corona-Infizierte und 1,5 Millionen Verstorbene. Auch knapp ein Jahr nachdem das neuartige Virus der Weltgesundheitsorganisation erstmals gemeldet wurde, bleibt es Topthema für Regierungen rund um den Erdball. Was die Livestream-Daten allerdings nur andeuten, aber nicht abbilden, sind die weitreichenden Auswirkungen der Gesundheitskrise.

Das Jahr 2020, so ist zu befürchten, wird die Welt um einiges zurückwerfen. Dabei stand zu Jahresbeginn noch das Gegenteil, nämlich Fortschrittsbeschleunigung, am Plan. António Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen VN, hat im Jänner eine „Aktionsdekade“ ausgerufen, um die Agenda 2030 mit mehr PS auf den Weg zu bringen. Gemeint ist jener Weltzukunftsvertrag, auf den sich im Herbst 2015 193 Länder geeinigt haben. Führende Politiker aller VN-Mitgliedsstaaten gaben damals das Versprechen, innerhalb von 15 Jahren das Leben von Milliarden Menschen zu verbessern. Unter dem Motto „niemanden zurückzulassen“, sollen bis 2030 Hunger und extreme Armut beseitigt sein, alle Menschen Zugang zu Bildung, Gesundheit, Energie und Wasser haben, außerdem die Biodiversität erhalten und der Klimawandel bekämpft werden. Insgesamt 17 globale Ziele – die Sustainable Development Goals SDG – wurden dafür in einen farbenfrohen Katalog gepackt und in 169 Unterzielen konkretisiert.

Agenda 2030

Fahrplan für Fortschritt

Covid-19 hat negative Auswirkungen auf die meisten der 17 Sustainable Development Goals SDG, die eigentlich bis 2030 erreicht werden sollen.

Die Agenda 2030 im Überblick

Mit der rasanten Ausbreitung von Covid-19 wird die Erreichung der Agenda 2030 allerdings deutlich erschwert. Die Krise spielt sich eben nicht nur in den Krankenhäusern dieser Welt ab. Ob dauerhaft oder nur temporär, ist etwa die Arbeitswelt durch hohe Einkommens- und Jobverluste gezeichnet: Für das zweite Quartal 2020 ermittelte die Internationale Arbeitsorganisation ILO ein Minus von 17,3 Prozent der global geleisteten Arbeitszeit, das entspricht einem Äquivalent von fast 500 Millionen verlorenen Vollzeitstellen (auf Basis einer 48-Stunden-Woche). Die größten Auswirkungen seien laut ILO in Regionen mit niedrigen und mittleren Einkommen zu verzeichnen – und in Ländern mit den schwächsten Sozialsystemen. Damit wirkt sich die Krise nicht nur auf „SDG 8 – Menschen-würdige Arbeit und Wirtschaftswachstum“ aus, sondern erschwert in Folge die Erreichung von „SDG 1 – Armut in all ihren Formen und überall zu beenden“. 

Agenda 2030: Viele Wanderarbeiter haben durch das Coronavirus heuer ihre Jobs verloren.
Heimreise Die Internationale Arbeitsorganisation schätzt, dass es weltweit rund 160 Millionen Arbeitsmigranten gibt. Viele Wanderarbeiter haben heuer ihre Jobs verloren.

Dabei galt gerade der Kampf gegen „extreme Armut“ – aktuell definiert als Pro-Kopf-Einkommen von unter 1,90 US-Dollar am Tag – als Erfolgsgeschichte: Lebte im Jahr 1990 noch mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung unter dem absoluten Existenzminimum, waren es 2019 mit rund 650 Millionen Betroffenen weniger als neun Prozent. Die Pandemie verursacht nun den ersten Anstieg nach zwei Jahrzehnten kontinuierlichen Fortschritts: Laut Schätzungen der VN könnten heuer mehr als 70 Millionen Menschen in extreme Armut zurückfallen, die Weltbank befürchtet gar ein Plus von bis zu 115 Millionen Menschen.

Agenda 2030: Not on track

Allerdings: Auch vor 2020 befand sich die Agenda 2030 nicht auf Erfolgskurs. Im Vorjahr warnte die Weltbank vor einer Verlangsamung oder gar Stagnation im Kampf gegen Armut: Der Rückgang der Zahl der extrem Armen fand vor allem in Ost- und Südasien statt. Die Zahlen in Subsahara-Afrika stiegen hingegen an – ein Trend, dessen Fortsetzung sich angesichts eines hohen Bevölkerungswachstums und fragiler afrikanischer Staaten abzeichnete.

Agenda 2030: Extreme Armut steigt nach Jahrzehnten des Fortschritts wieder an.
Extreme Armut steigt nach Jahrzehnten des Fortschritts wieder an.

Das Ziel, extreme Armut bis 2030 weltweit zu beseitigen, wäre also vermutlich auch ohne Corona nur schwer erreichbar gewesen. Und, wie Statistikexperte Ola Rosling von der schwedischen Gapminder Stiftung in einer Präsentation kürzlich aufzeigte, waren große Fortschritte in den ersten fünf Jahren der Agenda 2030 generell eher die Ausnahme – soweit dies beurteilbar ist. Die Bewertung der Erreichung der 17 Ziele stößt nämlich auch auf große Datenlücken. Von 35 analysierten Indikatoren – Rosling wählte jene, für die ausreichend aktuelle Daten vorliegen – entwickelten sich jedenfalls nur sechs zufriedenstellend. Dazu zählen Erfolge im Kampf gegen Kindersterblich- keit, bei der Müttergesundheit oder auch beim Zugang zu Elektrizität. Bei 24 Indikatoren wie „Zugang zur Grund- und Sekundarschulbildung“ oder „Überfischung“, war die Welt laut Rosling zu langsam unterwegs. Und bei fünf Größen, darunter Erhalt der Biodiversität oder Anzahl der Städter, die in Slums wohnen, ging der Trend überhaupt in die falsche Richtung.

In puncto Weltverbesserung gibt es jedenfalls reichlich zu tun, wobei arme und reiche Länder bei der Agenda 2030 unterschiedlich gefordert sind. Während Entwicklungsländer tendenziell mit Armutsfolgen wie Hunger, Kindersterblichkeit oder fehlender Sanitärversorgung kämpfen, sind reichere Länder mit Wohlstandsfolgen wie Übergewicht, übermäßigen Lebensmittelabfällen und hohen CO2-Emissionen beschäftigt.

Und, wie der Sustainable Development Report 2020, der Länder nach dem bisherigen Stand ihrer SDG-Umsetzung bewertet, zeigt, gibt es überall Luft nach oben. Im Ranking der am besten abschneidenden Länder sind die Podestplätze heuer von Schweden, Dänemark und Finnland besetzt. Für Österreich errechneten die Experten den soliden 7. Platz, in den Top 15 finden sich ohnehin nur europäische Länder. Doch leisten die Besten auch genug? „Mit einem Business-as-usual-Szenario werden selbst die Topplatzierten eine große Zahl an globalen Zielen verfehlen, vom Rest Europas und anderen Weltregionen ganz zu schweigen“, meinte Christian Kroll, Scientific Co-Director des SDG Index, kürzlich bei einem virtuellen Event zur Agenda 2030 in Österreich.

Und auch das SDG Zeugnis für Österreich weist auf einige Schwächen hin: Einzelne Indikatoren in Bereichen wie Ernährungssicherheit (SDG 2), Produktion und Konsum (SDG 12), Klimaschutz (SDG 13) oder Partnerschaften (SDG 17) leuchten orange oder gar rot auf – wie vom Corona-Ampelsystem hinreichend bekannt, sind dies keine Farben der Freude.

Multidimensionale Krise

Seit heuer wissen wir auch: Selbst ein vergleichsweise reiches Land wie Österreich mit sehr gut ausgebautem Gesundheitssystem kann zuweilen an Kapazitätsgrenzen stoßen. Und auf globaler Ebene zeigt sich, dass Covid-19 längst nicht nur ein Problem der Notfallmedizin oder der älteren Bevölkerung ist. Indirekte Folgen erreichen selbst die Jüngsten. „Auch wenn sich hartnäckig der Mythos hält, dass Kinder von der Krankheit kaum betroffen sind“, so Henrietta Fore, Direktorin des Kinderhilfswerks UNICEF, sei das Gegenteil der Fall: Die Gesundheitsrisiken bei Kindern erhöhen sich zwar weniger durch eine Covid-19-Infektion, wohl aber durch fehlende Prävention von anderen Krankheiten. Laut VN wurden heuer Impfprogramme in rund 70 Ländern unterbrochen. Besonders schwer wiegen ausgesetzte Kampagnen gegen Masern und Polio. Und der Goalkeepers Report der Gates Stiftung warnte, „dass die Durchimpfungsrate 2020 auf das Niveau der 1990er Jahre zurückfällt: Wir sind binnen 25 Wochen um 25 Jahre zurückgeworfen worden.“ Auch bei den Sterblichkeitsraten bei Müttern und Neugeborenen oder der Behandlung vermeidbarer Krankheiten wer- den Rückschritte erwartet – womit die Erreichung „eines gesunden Lebens für alle Menschen“ (SDG 3) deutlich erschwert wird.

In einem weiteren Bereich sind Kinder ebenfalls stark betroffen: in der Bildung (SDG 4). Heimische Schüler haben seit März bekanntlich nur zwei Monate regulären Unterricht erlebt. Viele andere Länder öffnen und schließen ebenso, je nach Infektionslage, die Schultore (siehe unten). Vor allem in ärmeren Regionen ist mit dem Schulbesuch oft auch eine Mahlzeit verbunden, die günstig oder kostenlos ausgegeben wird. Laut UNICEF haben im Oktober rund 265 Millionen Kinder keine Schulmahlzeiten erhalten, womit sich für viele die Ernährungssituation (SDG 2) verschlechtern dürfte.

Neue Wege für die Agenda 2030

Lediglich für Ziele wie Schutz der Ozeane (SDG 14) und des Klimas (SDG 13) waren kurzfristig positive Effekte beobachtbar (siehe unten). Auf die allermeisten Ziele dürfte 2020 hingegen wie ein gewaltiger Bremsklotz wirken, womit sich die Zweifel verstärken, ob die SDG im Jahr 2030 tatsächlich als Erfolg gefeiert werden können. Die Krise könnte aber auch eine andere Perspektive eröffnen: Vielleicht bringt gerade 2020 das entscheidende Momentum, Althergebrachtes zu überdenken und mithilfe der Agenda neue Wege zu finden, um Gesellschaften widerstandsfähiger zu machen.

Nächste Herausforderung für die Agenda 2030: Die neuen Impfstoffe zur Prävention von Covid-19 auch Menschen in ärmeren Ländern zugänglich zu machen.
Nächste Herausforderung: Die neuen Impfstoffe zur Prävention von Covid-19 auch Menschen in ärmeren Ländern zugänglich zu machen.

Das würde auch bedeuten, ärmere Länder nicht im Stich zu lassen, sondern sie im Ausbau ihrer Gesundheitssysteme, in der Armutsbekämpfung und im Aufbau wirtschaftlicher Prozesse tatkräftig zu unterstützen. Ein Praxistest steht unmittelbar bevor: Reichere Länder haben sich ausreichend Impfstoffe für ihre Bevölkerungen gesichert, sollten aber ihre Versprechungen halten und ärmere Staaten mitversorgen.

Auch im Eigeninteresse. Denn nur wenn das Virus überall zurückgedrängt wird, ist Covid-19 irgendwann beherrschbar. Und erst dann wird ein Zahnarzt in Südkorea seinen Corona-Livestream endlich einstellen können.


Langfristiger Verlierer

Für manche Schüler mag der Aufruf zum Heimunterricht eine willkommene Abwechslung zum Schulalltag sein. Die globale Bildungskrise verschärft sich heuer aber zusehends: Trotz gewisser Fortschritte besuchten 2018 immer noch rund 260 Millionen Kinder und Jugendliche keine Schule. Das SDG 4 „Hochwertige Bildung für alle“ lag somit in weiter Ferne.

Agenda 2030: Schüler in Madagaskar
Große Pause: 190 Länder verordneten heuer landesweite Schulschließungen.

Heuer haben laut Kinderhilfswerk UNICEF rund 1,6 Milliarden Kinder und Jugendliche zeitweise ihre Bildungseinrichtungen nicht besucht. Und obwohl es in vielen Ländern Programme für Distance Learning via Internet, Radio oder TV gibt, können rund 460 Millionen Schüler mangels technischer Voraussetzungen nicht teilnehmen. Betroffen sind vor allem Kinder in Südasien und Subsahara-Afrika. Schulunterbrechungen wirken nicht nur nachteilig auf sprachliche oder mathematische Kompetenzen. UNICEF warnt auch vor Kinderarbeit, Kinderheirat, frühen Schwangerschaften – und einer Zunahme von Schulaussteigern.

Temporärer Gewinner

Der Reiseverkehr wurde drastisch reduziert, Menschen wechselten ins Homeoffice, Fabriken fuhren ihre Produktion herunter: Mit den im ersten Halbjahr 2020 verhängten Lockdowns wurde es auf der Welt merklich stiller – und „sauberer“:

Atempause: Weltweite Lockdowns reduzieren den CO2-Ausstoß erheblich.

Der globale Treibhausgas-Ausstoß fiel zwischen Jänner und Juni um 1.551 Millionen Tonnen CO2 unter den des Vorjahreszeitraums – ein Minus von 8,8 Prozent. Damit habe der Planet einen „beispiellosen Rückgang der CO2-Emissionen“ erlebt, wie aus einer im Magazin Nature Communications veröffentlichten Studie hervorgeht. Auf die langfristige CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre dürfte das temporäre Phänomen jedoch nur geringfügige Auswirkungen haben. Und für SDG 13, das „dringende Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen“ vorsieht, zählen Lockdowns mit ihren enormen wirtschaftlichen und sozialen Folgen wohl nicht als Mittel der Wahl.

Fotos: Nana Kofi Acquah, Gates Stiftung (2), Henitsoa Rafalia/Weltbank, Jamie Martin/Weltbank, United Nations, Boris Rumenov Balabanov/Weltbank, Sarah Farhat/Weltbank